Das Vermaechtnis des Caravaggio
auf. Er malte wie in Trance.
Nerina massierte seinen Nacken.
Mehr und mehr neigte sich sein Kopf zu ihr hin, bis er auf ihrer Brust zu
liegen kam. Micheles Augen blieben geschlossen, obwohl sie wusste, dass er
nicht schlief.
„Ich könnte das Bild malen, ohne je
die Augen zu öffnen. Manchmal ist es mir wirklicher als die Wirklichkeit“,
sagte er unvermittelt.
„Sie lieben es an deinen Bildern,
Michele. Sie lieben das Leben, das darin pulsiert. Jede Frucht, jedes Blatt
darauf atmet dieses Leben, als wäre es aus dieser Welt nur herausgenommen, um
in deine Welt hinüberzuwechseln.“
„Dazu muss ich sehen, Nerina. Ich muss
das Bild vor mir sehen.“
„Wenn du zu müde wirst,
verschwimmen die Formen und du wirst unzufrieden.“
Michele schüttelte den Kopf. Nerina
beugte sich vor und küsste von seiner Stirn einen blauen Flecken herunter. Er
schmeckte nach Leinöl und Pigment aus Lapislazuli.
„Nein, je verschwommener ich die
wirkliche Welt sehe, desto deutlicher wird die Imagination. Verstehst du? Ich
kann nicht wirklich malen, Nerina. Ich kann nur abzeichnen, was ich sehe,
hier“, er tippte sich an die Stirn. „Hier liegt das ganze Geheimnis. Ich sehe
alles genau vor mir und brauche nur noch die Wirklichkeit meinen Gedanken
anzupassen. Aber irgendwann weiß ich nicht mehr, was stimmt. Wo lebe ich?
Dort“, er deutete auf die Leinwand, „oder dort?“ Sein Finger strich über das
Atelier hin. Er zitterte.
„Du lebst in beiden Welten, Michele!“
Sie kraulte ihm die Haare im
Nacken. Die Fackeln warfen einen unruhigen Schein auf das Bild, und Nerina
glaubte beinahe, Maria würde sich im Augenblick erheben und auffahren in den
Himmel. Jetzt begriff sie erst, warum Michele diese Frau barfüßig gemalt hatte,
warum ihr Gewand geschürzt war, warum der Eindruck vermittelt wurde, sie
schwebe bereits. Wenn erst das flackernde Licht der Kerzen auf das Bild fiel,
dann hob sich diese Figur tatsächlich gen Himmel, dann begann der Körper
tatsächlich zu schweben und aus der Mitte der Trauernden aufzusteigen.
„Es wird ein wundervolles Bild,
Michele.“
„Sie werden es ablehnen, Nerina. Zu
weltlich, werden sie sagen, zu offen. Die Leinwand atmet nicht den Wind der
Erneuerung unseres Glaubens, sondern den Gestank des protestantischen
Aberglaubens.“
Nerina strich ihm weiter durchs
Haar und versuchte ihn zu beruhigen, aber sie fühlte, wie er sich unter ihren
Händen verkrampfte, wie er sich in eine Idee zu vergraben begann. Sie fühlte
seine Unruhe, die aufstieg wie die Flut, die langsam jeden Zentimeter Strand
zurückeroberte.
Michele riss sich los, schüttelte
den Kopf, fuhr sich mit von Farbe verschmierten Händen durchs Haar und griff
nach der Weinflasche.
„Lass mich allein. Lass mich malen.
Ich muss das Bild beenden. Die Mönche werden unruhig. Der Tod des Papstes hat
sie nervös gemacht. Als du auf dem Markt warst, war ein Mönch hier, der nach
dem Fortgang gefragt hat.“
Nerina horchte auf.
„Ein Karmeliter?“
„Ja. Nein. Ich weiß nicht.
Vermutlich ja. Er war barfuß.“
„Hat er Geld dagelassen?“
Michele lachte laut auf.
„Ist das Bild fertig? Sie haben
Vorschuss für Farben und Leinwand bezahlt. Nichts hat er dagelassen.“
„Wir brauchen Geld. Der Wein, das
Essen, deine Modelle, sie kosten. Wir haben nichts mehr!“
Michele ließ den Pinsel sinken und
wandte sich zu Nerina um, die noch immer hinter ihm stand.
„Lass mich allein, bitte. Ich muss
mich konzentrieren.“
„Der Tag graut schon, Michele. Du musst
schlafen.“
„Willst du hungern oder etwas zu
essen auf den Tisch bekommen? Wenn du essen willst, muss ich malen.“
Nerina stampfte mit dem Fuß auf.
„Wenn du weniger trinken würdest,
hätten wir mehr Geld fürs Essen übrig.“
Michele fuhr auf, sodass sein
Stehhocker umfiel. Er warf den Pinsel an die Wand und schrie.
„Raus jetzt! Ich habe dieses
Gejammer satt!“
Nerina zuckte zurück. Sollte der
Dickschädel doch verhungern oder an seinem Wein ersaufen. Sie packte ihre
Sachen, legte sich einen Schal um die Schultern und wandte sich zum Gehen.
Wortlos verließ sie das Atelier und ließ Michele zurück, der sicher nicht
einmal mitbekommen hatte, dass sie einfach gegangen war. Es war nicht leicht,
mit ihm zusammenzuleben. Nichts war, wie es hätte sein sollen. Er konnte Tage
durcharbeiten, bis die schwarzen Ränder um seine Augen aussahen wie eine
überdimensionale Iris, in deren Mittelpunkt wie vertrocknet eine Pupille lag.
Er konnte trinken bis zur
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