Das Vermaechtnis des Caravaggio
Hand, die Köpfe unter Kapuzen verborgen. Langsamen Schritts
bewegten sich die Mönche in einer Zweierreihe zur Kapelle und forderten dabei
wie selbstverständlich eine Gasse ein.
Weihrauchschwaden zogen durch die
Kirche, das Gemurmel lateinischer Gebete und Segensformeln drang an Enricos
Ohr, alles untermalt vom Choral auf den Namen Marias, den die Karmeliter
unablässig wiederholten und in endlosen Verschlingungen ineinanderfließen
ließen, während ihn immer stärker das Gefühl peinigte, er müsse ersticken.
Flehend sah er zur Madonna hinüber, die leicht über dem Altar schwebte, ohne
bedrängt zu werden, und bat diese, doch Abhilfe zu schaffen.
Vor dem verhüllten Altarbild hielt
die Prozession inne. Die Mönche bildeten einen Halbkreis, stellten ihre Kerzen
ab, die auf mannshohen Stangen steckten, der Prior kniete nieder, segnete das
Bild erneut, spritzte Weihwasser auf das Leinen und hüllte es in Weihrauch.
Enrico glaubte schon, die Zeremonie
würde ewig dauern, als der Gesang verstummte und sich eine beunruhigende Stille
ausbreitete. Auf einen Wink des Priors trat einer der Kerzenträger an das Bild
heran, zog an einem Strick, und das Leinen fiel, wie in Enricos Vorstellung das
letzte Unterkleid einer Frau fallen müsste, in sanften wellenförmigen
Bewegungen.
Ein Ausruf des Erstaunens durchfuhr
die Menge. Für einen Augenblick herrschte eine angespannte Ruhe, ein heftiges,
vielkehliges Ein- und Ausatmen, aber plötzlich schwollen die Gespräche wieder
an, ein Geraune durchlief die Menschen ringsum, ein irritiertes Wispern und
Murren. Enrico betrachtete sich das Bild stumm. Es war wundervoll, es war
ungeheuerlich, es war ein Meisterwerk, eines Genies würdig – aber es war
ketzerisch. Noch vor fünfzig Jahren wäre Caravaggio dafür auf dem
Scheiterhaufen gelandet. Kaum hatte Enrico diesen Gedanken formuliert, als sich
eisiges Schweigen über die Gemeinde legte. Selbst das Klirren der Ketten am
Weihrauchfass verstummte.
„Schande!“, schrie eine Stimme.
„Ketzerei!“, folgte eine zweite,
und plötzlich ging ein Sturm durch die Menge. Jeder schrie, jeder kreischte,
jeder versuchte, den anderen in seiner Ablehnung zu überbieten. Wie ein Korken
fühlte sich Enrico inmitten dieser Wortbrandung hin und her geworfen und
schüttelte den Kopf. Was hatten die Menschen nur? Erkannten sie nicht, dass mit
diesem Bild eine neue Zeit angebrochen war, was das Spiel mit dem Licht
anbelangte, dass es so viel Unbekanntes enthielt, so viel mutige Religiosität, dass
alle anderen Gemälde der Kirche dagegen verblassten? Auch du, giftete Enrico
zur Madonna über dem Hauptalter hinüber, siehst dagegen etwas verlebt aus.
Aus der Menge der Stimmen schälten
sich plötzlich einige, die versuchten, eine Diskussion über das Bild zu
beginnen. Enrico erkannte Scipione Borghese, dessen Stimme im Kirchenschiff
deutlich widerhallte. Er hätte einen guten Prediger abgegeben, der Borghese.
„Es ist ein neuer Ansatz. Sollten
wir nicht alle zur Armut zurückkehren? Hier findet ihr sie im Antlitz Marias!“
„Hier liegt nicht die
Himmelskönigin, hier liegt eine Hure!“, donnerte eine andere Stimme, die dem
Prior der Karmeliter zu gehören schien.
„Kanntet Ihr sie?“, schrie eine
weitere Stimme dazwischen, verhallte aber ungehört. Nur Enrico glaubte, den
Fanten vor ihm als Urheber ausgemacht zu haben. Er stutzte.
„Darf sie uns nicht näherkommen?
Darf Maria als unser aller Mutter nicht menschlich sein?“, fragte Kardinal Del
Monte, soweit Enrico sehen konnte.
„Sie darf, aber sie darf nicht
gewöhnlich werden. Entseelt liegt sie da. Wo ist Christus? Wo ist ihre Seele,
die auffährt in den Himmel und sitzt zur rechten des Herrn? Die Mutter Gottes
ist auf diesem Bild ein gewöhnliches Weib!“
Den Würdenträger erkannte Enrico
nicht, da er ihm den Rücken zukehrte, er gehörte zweifellos zur spanischen
Fraktion.
„Darf sie nicht ein gewöhnliches
Weib sein, wenn selbst der Papst ein gewöhnlicher Mensch ist?“, fuhr eine
Stimme dazwischen und alle drehten sich nach dem Rufer um. Alle Blicke irrten
umher und suchten den Redner.
Enrico hätte beschwören können, dass
dieser letzte Satz in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit von niemand anderem
gesagt worden war, als von dem jungen Fant vor ihm. Außerordentlich, dachte er
sich. Noch vor zwanzig Jahren wäre er dafür in den Verliesen der Engelsburg
verschwunden und hätte sein loses Mundwerk dazu benützen dürfen, die Ratten von
seinem Körper fernzuhalten. Er
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