Das Vermaechtnis des Caravaggio
langen,
männlichen Schritten, die Hände in den Taschen vergraben, hinab zum Fischmarkt
auf dem Porticus Octaviae und in Richtung Tiber hinunter. In der Via S. Angelo
in Pescheria verlangsamte sie ihren Schritt und begann zu suchen. Hier
flanierten jetzt, am späten Nachmittag, die Frauen auf und ab, die auf die
Schiffer und andere männliche Kundschaft warteten. Langsam schlenderte Nerina
die Gasse hinunter und musterte die Frauen, die vereinzelt im Schatten standen
und träge die Zeit vorüberfließen ließen.
Nerina wusste nicht recht, wie sie
vorgehen sollte. Vielleicht war ihre ganze Idee doch nur ein Hirngespinst. Es
war bestimmt zu lange her, als dass die Frauen sich an einen einzelnen Freier
erinnern konnten, aber sie wusste von Lena selbst, dass ihnen ein bestimmter
Typus von Männern gern im Gedächtnis blieb, sei es, weil er gut bezahlte, sei
es, weil er ungewöhnliche Dinge verlangte.
Trotzdem hemmte sie der Gedanke,
als Freier auftreten zu müssen. Überlegt hatte sie sich zuvor allerdings, dass
sie als Frau nie an die Mädchen herangekommen wäre, dass niemand sie
wahrgenommen, geschweige denn mit ihr geredet hätte, außer sie hätte Modelle
gesucht und dafür eine Entlohnung versprochen. Aber die Frauen blieben meist
stumm, verrichteten ihre Arbeit in Micheles Atelier, ohne ein Wort darüber zu
verlieren, und verließen das Haus nur mit einem kurzen Dank und einer Münze in
der Hand.
Sie spazierte ein zweites Mal die
Straße entlang, und jetzt konnte sie sich auf das Verhalten der Frauen
verlassen. Der Jüngling ohne Interesse verwandelte sich durch den zweiten Gang
plötzlich in einen Kunden. Nerina staunte über die Art, wie unumwunden die
Frauen sie ansprachen, wie klar sie ihre Absichten offenlegten und mit welcher
scheinbaren Sicherheit sie Vorzüge hervorhoben oder Praktiken anboten. Diese
direkte Art verwirrte sie einerseits, sodass sie nicht daran dachte, bei einem
der Mädchen zuzusagen, andererseits faszinierte sie diese offene,
selbstbestimmte Art. Nur die Mädchen und Frauen selbst verursachten ihr Übelkeit.
Man sah ihnen an, dass sie in der Gosse angekommen waren, dass sie Verlorene
waren, die man in dieser Stadt am liebsten verschwieg, deren Tätigkeit aber
niemand entbehren konnte, die katholische Kirche und ihre Würdenträger am
allerwenigsten. Zerlumpt waren die meisten, ausgehungert, mit den Spuren von Misshandlungen
und gezeichnet von Krankheiten. Kaum eine konnte als Schönheit in ihren Augen
bestehen, und doch verstand sie langsam, warum Michele gerade unter ihnen seine
weiblichen Modelle aussuchte. Sie hatten allesamt einen Blick, der den satten
und glaubensfesten Städtern der besseren Gegenden abhandengekommen und in den
Augen der Kleriker längst ebenso erloschen war, den Blick der Getretenen, der
in den Staub Geworfenen, der Menschen, die nichts hatten als ihren Glauben und
an diesem selbst zu zweifeln begannen ob ihrer Lage.
Ihr schauderte, als sie überlegte, dass
das Schicksal dieser Frauen durchaus das ihre hätte sein können. Was wäre
geschehen, wenn ihre Zieheltern und die Schauspieltruppe sie nicht zu Michele
gegeben, sondern regelrecht verkauft hätten? Zwar hatte er keinerlei schlechte
Absichten gehabt, sondern tatsächlich ihr Talent weiterbilden wollen, aber ebenso
gut hätte sie an einen Waibel geraten können – und dann würde sie hier auf der
Straße stehen und ihren Körper für Geld feil halten oder das Schicksal von Lena
teilen.
An den Straßentischen, die den
ersten Wein des Abends trugen, tönten laut die Spekulationen der Freier über
die politischen Ziele Papst Leos XI. Ganz gegen die Interessen Venedigs, hatte
er Kaiser Rudolf II. eine erhebliche Beihilfe zum Krieg gegen die Türken
gewährt, sodass dieser zusicherte, den Vatikan und seinen Herrscher, den Papst,
mit all den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen. Und Leo XI.
brauchte diesen Schutz offensichtlich, da er, wie man munkelte, bereits zwei
Mordanschläge überlebt haben sollte. Dabei waren die unchristlichen Interessen
dieses Herrschers, der sich in seinem Prag an Alchemie, Nekromantie und
Schwarzer Kunst erfreute, keineswegs dazu geeignet, den Papst an seine Seite zu
treiben. Aber Rudolf II. setzte sich für die katholische Sache ein und sammelte
die katholische Liga, um ein Gegengewicht gegen die immer mächtiger
auftretenden Protestanten im Norden zu bilden. Er trat damit in die Fußstapfen
des Spaniers Philipp II., dessen Krieg gegen die Protestanten vor fünf
Weitere Kostenlose Bücher