Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
wünschenswerter, als dass der Herzog ihm verzieh. Und dass er zur Belohnung für seine Dienste Weinberge und Häuser erhalten würde und wieder in sein geliebtes Mailand zurückkehren dürfte.
Der dritte und triftigste Grund für sein Zittern war jedoch zweifellos die unbequeme Körperhaltung, in die ihn seine Lauscherei gezwungen hatte. Um zu verstehen, was sich die Orientalen und Ferruccio erzählten, hatte er die Schenkelmuskel zu lange angespannt und die Wirbel des Rückgrats zu stark gebeugt. Diese anatomischen Besonderheiten würde er eines Tages genauer untersuchen, vielleicht gar in Mailand, und zwar in den Pausen zwischen den zahlreichen Aufträgen, die ihm der Herzog beschaffen würde. Außerdem würde er seine Kreditgeber befriedigen und – so der Himmel wollte – auch Mittel und Wege finden, um Tommaso daran zu hindern, weiter zu stehlen. Dieses verdammte Laster hatte sie schon mehrfach in Bedrängnis gebracht und sie genötigt, sich das Stillschweigen der Bestohlenen mit dem zehnfachen Wert der Beute zu erkaufen.
»Vermaledeit seist du, Tommaso Masini, und vermaledeit sei ich, der ich dich nicht aus meinem Herzen verjagen kann«, murmelte er.
Er schlich an den Mauern der Via Ripetta vorbei, und als er in die Via Recta einbog, stellte er mit Erleichterung fest, dass ein Wachtrupp des Pontifex seine Runde machte. Die Soldaten des Papstes ließen ihren inquisitorischen Eifer zwar öfter an den Schwächeren aus als an den spanischen Banden, die den Borgia gefolgt waren, er würde jedoch nichts zu befürchten haben. Sie hielten in den Armenvierteln das Heft in der Hand und forderten Schutzgeld von den Händlern und Prostituierten. Schließlich erreichte er die Kirche Santo Celso. Von hier aus konnte er bereits das apostolische Staatssekretariat sehen – den Wohnsitz von Ascanio Sforza, dem Vize-Kardinalstaatssekretär. Er blieb stehen und schaute sich um. Dann ging er auf das Haupttor zu.
Ein flinker Schatten verbarg sich hinter der Säule der nahen Santo-Biagio-Kirche, und als er vorsichtig wieder zum Vorschein kam, hatte Leonardo bereits die Schwelle des Palazzos überschritten. Gabriel gratulierte sich selbst. Es hatte sich also doch gelohnt, die Feuchtigkeit dieser Nacht zu ertragen. Das stetige Umherziehen mit Spionen, Huren und Spielern hatte ihn gelehrt, niemandem zu trauen. Das Verhalten des Sodomiten hatte sich verändert – der Florentiner war seit Tagen nervös und überaus einsilbig, was so gar nicht zu seiner sonstigen Art passte.
Gabriel kannte den Palazzo, denn er hatte sich mehr als einmal entweder für die Salviati, die Orsini oder die Colonna dort herumgetrieben, um Unruhe zu stiften. Dieser nächtliche Ausflug hatte einen bestimmten Grund, den er zwar nicht kannte, den sich aber Ferruccio oder die anderen beiden sicherlich zusammenreimen konnten. Mit seinem Herumspionieren würde der Florentiner bestimmt ein paar Kröten dazuverdienen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber Leonardo musste auch auf seine Kosten lernen, dass er ihn nicht, wann immer es ihm in den Sinn kam, wie einen brünstigen Messdiener oder einen dummen Junge behandeln durfte und nur, weil Gabriel weder von edler Geburt noch so intelligent war wie er.
Derjenige, der sich in diesem Moment ganz besonders schlecht fühlte, war Leonardo, denn er wartete seit Stunden darauf, von Kardinal Sforza empfangen zu werden. Er war in ein kleines, fensterloses Studierzimmer geführt worden, dessen Schreibtisch und Stühle mit rotem Leder überzogen waren. Rot war auch der Wollteppich, der den gesamten Raum bedeckte. Das aufgeschlagene Geometriebuch auf dem Tisch hatte Leonardo sogleich eingehend studiert, es jedoch bald aufgegeben, die Anmerkungen neben den geometrischen Figuren zu lesen. Zum Glück hatte er sich die Stunden des Wartens mit dem Betrachten seines Antlitzes und seiner Figur in einem großen Spiegel neben der Tür vertreiben können. Sobald er seinen Körper dem Spiegel näherte oder sich von ihm entfernte, entdeckte Leonardo erstaunt, deformierte sich sein Spiegelbild, und die äußerlichen Körpermerkmale erschienen grotesk und monströs.
Vor einigen Jahren hatte er in Venedig einen jungen deutschen Maler kennengelernt, einen gewissen Türer oder Dürer. Stolz hatte ihm dieser ein frisch gedrucktes Büchlein mit dem geheimnisvollen Titel Das Narrenschiff vorgelegt und ihn gebeten, ihm seine Einschätzung über die Illustrationen mitzuteilen, die er gefertigt habe. Damals fand er die Bilder
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