Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
unter den Kopf des Mönchs und nahm zwei kleine Äste, die sie wie ein Kreuz auf seine Brust legte. Zum ersten Mal spürte sie etwas, das sie in ihrem Leben noch oft erzählen würde: Ihr Sohn hatte sie getreten.
»Ja«, sagte sie. »Gehen wir.«
Bruder Marcello folgte ihr mit seinem intakten Auge. Da ihm das andere fehlte, konnte er am Horizont den Umriss der Frau nur noch schemenhaft sehen, und es schien ihm, dass sie sich langsam von ihm entfernte. Er versuchte sich aufzurichten, und als er erneut in ihre Richtung blickte, war Leonora verschwunden. Erleichtert lehnte er sich zurück, schloss die Augen, und endlich, nach vielen Jahren, wandte er sich wieder Gott zu.
35
Rom, 15. November 1497
Andächtig betrachtete Ferruccio das Objekt, das sein Leben so erschüttert hatte. Vorsichtig klappte er das Buch auf. Die Glocke des Abendgebets war schon seit geraumer Zeit verklungen, und Stille hatte sich über den Palazzo gelegt. Sie waren ungestört. Gabriel hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, nachts mit den Soldaten des Fürsten umherzuziehen, und der florentinische Meister war, wie immer irgendetwas Unverständliches vor sich hin brummelnd, kurz nach dem Mittagstisch seiner eigenen Wege gegangen. Ferruccio blickte auf die erste Seite des Buches und versuchte, die runden Schriftzeichen zu entziffern, mit denen das ganze Blatt dicht beschrieben war.
»Diese Zeichen kann ich nicht lesen.«
»Es ist Pali.« Achtsam glitt Gua Li mit dem Zeigefinger von links nach rechts über die Zeilen. »Es ist die antike Sprache unserer Vorfahren.«
»Eine sehr robuste Sprache«, fügte Ada Ta hinzu, »denn seit Jahrhunderten liegt sie im Sterben, und doch ist sie noch am Leben. So wie ich Alter hier.«
»Du liegst nicht im Sterben, mein Vater. Du tust nur so. Genau wie der Dachs, der dann blitzschnell die Gunst der Stunde nutzt und die Schlange angreift.«
»Das ist also sein Tagebuch?«, fragte Ferruccio, der zwischen den Zeilen ein ihm bekanntes Zeichen zu finden hoffte. Etwas, das ihn davon überzeugen würde, dass das Buch wirklich das war, was Ada Ta und Gua Li behaupteten. »Diese Seiten hat also tatsächlich der Jesus, den ich kenne, mit eigener Hand geschrieben?«
»Dies ist eine Abschrift«, antwortete die junge Frau. »Sie wurde wenige Jahre nach seinem Tode angefertigt, während der Herrschaft der Kuninda-Dynastie. Beschützt von einer vier Finger dicken Glasplatte, ruht das Original nun in seinem Grab. Es trägt die Unterschrift von Al Sayed, der schwört, dass er nur die Worte von Jesus oder Īsā, wie sie ihn nannten, aufgeschrieben hat, die dieser ihm nach seiner Rückkehr nach Palästina diktierte. Obwohl Jesus es nie wollte, nannte er ihn ›Rabbi‹ oder ›Meister‹. Auch das erwähnt er.«
»Eines der wenigen hebräischen Worte, dessen Bedeutung ich kenne, ist das Wort ›Rabbi‹. Es bedeutet wohl wirklich ›Meister‹.« Ferruccio konnte seinen Blick nicht von dem Schriftstück wenden. »Wie wird es wohl in dieser Sprache geschrieben sein?«
»Schau.« Gua Li deutete auf ein Wort. »Hier steht es geschrieben. Dieses Wort liest sich › aacariyassa ‹ und bedeutet ›Rabbi‹.«
Ferruccio schüttelte den Kopf und wandte sich an Ada Ta, der ihm sanft über die Wange strich. Es war das erste Mal, dass er ihn berührte.
»Er wollte nicht Meister genannt werden«, sagte er lächelnd, »denn Meister behaupten zu wissen – und deshalb lehren sie ja auch. Er hingegen sagte, er sei ein Mann, der nichts wisse und stets auf der Suche nach dem Wissen sei. Dabei sei es aber gar nicht so wichtig, das Ziel zu erreichen, sondern vielmehr beim Suchen den richtigen Weg einzuschlagen.«
»Helft mir zu verstehen. Ich will verstehen. Ihr behauptet, dass Jesus in diesem Schriftstück sagt, er sei nicht der Sohn Gottes. Das ist absurd, versteht ihr?«
»Wir alle sind Kinder einer einzigen Essenz.« Ada Ta legte die Hände aneinander. »Und diese Essenz hat viele Namen. Energie des Lebens oder Kundalini , wie es die altehrwürdigen Gelehrten der Veda nennen. Der Same, dem meine Tochter entsprang, ist allerdings nicht der gleiche, der diese Ratte entstehen ließ, die gerade hier aus der Kammer entwischt ist.«
Gua Li machte eine Geste des Ekels.
»Dieser Mann, der eine zarte Seele und einen wachen Geist hatte, hat sich nie ›Gott‹ genannt«, fuhr Ada Ta fort. »Und es ist eher amüsant als absurd, dass in den Büchern, die ihr die Evangelien nennt, diese Tatsache behauptet und wiederholt wurde und dass niemand
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