Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Reiter seinem Pferd die Sporen und begann, Marcellos Körper durch den spritzenden Schlamm zu ziehen.
Leonora schloss die Augen und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Die anderen richteten sich in ihren Sätteln auf, um zu beobachten, wie ihr Kumpan den Mönch hinter sich herschleifte. Als dieser endlich zurückgeritten kam, zog er nur noch eine blutige Schlammmasse hinter sich her. Zum Abschluss ließen die Männer ihre Pferde noch auf Marcellos verletztem Körper herumtrampeln und galoppierten dann einfach davon.
Wortlos und mit gespitzten Ohren wartete Leonora lange und bange Minuten. Der Regen hatte aufgehört, und nur ab und an ließ der Wind noch ein paar Tropfen von den Blättern der Lorbeerbüsche, hinter denen sie sich versteckt hatte, herunterfallen. Marcello war ihr Gefängniswärter gewesen; ihr Bewacher; derjenige, der sie Ferruccio entrissen hatte. Marcello hatte sie entführt in dieses Nichts, weit weg von allem – und er hatte versucht, ihr Gewalt anzutun. Doch trotz allem verspürte sie eine Mischung aus Mitleid und Entsetzen angesichts seines grausam zugerichteten Körpers.
»Einem Verletzten musst du helfen, auch wenn er dein Feind ist«, hatte ihre Großmutter immer die Märchen beendet, die sie ihr abends am Feuer vor dem Zubettgehen erzählte. »Und wenn du ihm hilfst, wird ein Wunder geschehen – denn das wahre Gebet ist eine gute Tat.«
Also kroch Leonora vorsichtig unter dem schützenden Gebüsch hervor. Das Gesicht des Mönchs glich einer blutigen Maske: Sein rechter Augapfel war aus der Höhle gerissen und nur noch mit einer einzigen Sehne mit ihr verbunden. Durch einen Riss in der Wange konnte sie in seine Mundhöhle sehen – die Zähne waren fast alle herausgebrochen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie musste einen Würgereiz unterdrücken. Unter der bis zu den Lenden hochgerutschten Kutte des Sterbenden kamen seine zertrümmerten Beine zum Vorschein. Beine und Gesicht hatten den größten Schaden genommen. Sie sah, dass er noch atmete, und sprach ein stummes Dankgebet, holte Wasser aus ihrer Zelle und kehrte zu dem verwundeten Mönch zurück. Dann versuchte sie, seinen Kopf anzuheben und ihm etwas Wasser einzuflößen, aber er presste den Mund zusammen. Als er sprach, spürte sie, wie der Atem der zerrissenen Wange entwich.
»Danke. Doch nun geh fort. Sie könnten wiederkommen.«
»Marcello …«
Es war zum ersten Mal, dass sie ihn mit seinem Namen ansprach, und Leonora wusste auch, dass es das letzte Mal sein würde. Wenn der Schmerz den Körper verlässt, ist dies ein Zeichen dafür, dass er aufhört zu reagieren. Der Mönch weinte über die plötzliche Linderung seiner Schmerzen, denn nun wusste er, dass er seine Seele bald Gott übergeben würde – oder einer anderen Macht.
»Hör zu, wir haben keine Zeit. Sie suchten dich. Ich glaube, sie wollen dich ermorden – ob im Auftrag meines Herren oder eines anderen – das weiß ich nicht, aber es ist auch nicht wichtig.«
Um sein Flüstern zu hören, musste sich Leonora ganz nah zu ihm herunterbeugen. Dabei berührte sie fast die blutige Masse, die ihr bis vor ein paar Stunden noch Furcht und Hass eingeflößt hatte – jetzt aber nur noch Ekel und Mitleid in ihr auslöste.
»Schlag die Richtung ein, aus der sie kamen, nach einer Meile kommst du an eine Weggabelung. Halte dich links, dann müsstest du noch vor Abendeinbruch zum Pfarrhaus von Cintoia gelangen. Es befindet sich nahe einer Festung mit einem Turm. Dort ist mein Bruder Mariano. Frag nach ihm und gib ihm diesen eisernen Ring; er wird ihn erkennen, denn er hat den gleichen. Lass dich dann nach Florenz zu Bruder Savonarola bringen. Er ist der Einzige, der dich beschützen kann.«
»Ich kann nicht – ich habe das Kind … und dir geht es schlecht.«
»Geh!« Ein Atemhauch traf ihr Gesicht. »Bald wird es mir gut gehen, und eines Tages wird dein Sohn neben dir herspringen.«
»Du kannst geheilt werden, ich kenne Kräuter, die …«
»Weib, deine Kräuter werden Tote nicht mehr zum Leben erwecken, außer du bist eine Hexe, doch in diesem Falle hättest du mich schon längst getötet. Das hätte ich übrigens vorgezogen.«
Leonora zog ihre Hand zurück, die sie auf den Mönch gelegt hatte, und sah, dass sie voller Blut war. Ein langer Riss in der Kutte verriet eine große Wunde, aus der seine Gedärme quollen. Leonora verharrte in ihrer Position und hielt seine Hand. Nach einer Weile stand sie auf, nahm einen Stein, legte ihn
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