Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Dämon des Hasses befreien konnte. So hatte er die Krankheit überlebt, die seinen Körper verwüstet hatte, nachdem man ihn vor langer Zeit seiner Seele beraubt hatte. Wie auch immer sein Schicksal aussehen würde, es würde sich durch die Worte Gua Lis manifestieren, die so einfach waren wie die seiner Mutter, die sie ihm zugeflüstert hatte, als sie ihn stillte. Dieser Īsā oder Jesus, auf den er lange Zeit wie auf das Götzenbild eines Feindes gespuckt hatte, war nun Mensch und nicht mehr ein Gott. Er war sein wahrer Erlöser und würde für immer seine Mutter sein.
»Osman! Bist du es wirklich …«
Gua Li lief ihm entgegen und umarmte ihn.
»Du hast gehalten, was du versprochen hattest!« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu einer Bank in der Ecke. »Es ist wunderbar, dass du hier bist.«
»Die Schritte eines Hinkenden können die einer Gazelle überholen – wenn er den Weg weiß. Sei willkommen, Sohn, salam alaikum «, begrüßte ihn Ada Ta.
Der alte Mönch lächelte ihn an, und Osman, der seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, stammelte ein aleikum salam zurück. In diesem Moment trat Ferruccio ein. Verwirrt nahm er wahr, wie Gua Li gerade ihren Arm um die Schultern eines kleinen Mannes legte, der einfach gekleidet war und ein offensichtlich verkrüppeltes Bein hatte. Es verdross ihn, aber er sagte nichts. Obwohl keine Gefahr im Verzug zu sein schien, ging er instinktiv in Habachtstellung.
»Das ist der Mann, der uns während der Reise über das Meer begleitete«, erklärte ihm Ada Ta, »und der die Geduld aufbrachte, Gua Li zuzuhören. Er hatte uns versprochen, es wieder zu tun, und nun ist er hier aufgetaucht – wie eine Schwalbe im Frühling.«
»Der Herbst ist weit vorangeschritten«, antwortete Ferruccio kühl. »Was bedeutet, dass er entweder viel zu spät oder viel zu früh ist.«
»Die Jahrzeiten hängen von der Seele ab. Wenn sie schwermütig ist, dann sind die Tage trist, und die Luft ist schwer, doch wenn das Herz sich erfreut, dann kann auch ein Schneesturm Quell der Freude sein.«
»Leonardo verlässt uns, er ist vom Herzog von Mailand abberufen worden.« Ferruccio hatte keine Lust, mit dem Mönch zu disputieren. »Nun, der eine kommt, und der andere geht.«
»Das ist der Lauf der Dinge«, beendete Gua Li den Disput. »Ferruccio, das ist Osman. Er ist ein guter Mann.«
»Nein!« Der Mann putzte sich mit seinem Ärmel die Nase und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich bin kein guter Mann. Und ihr wisst auch, warum. Doch vorher möchte ich … möchte ich noch einmal eine Geschichte hören. Wo ist Īsā? Was ist mit seiner Familie? Er ist ein Mann, der es verdient, glücklich zu sein.«
»Damit eine Frau ein Kind bekommt, muss sie durch Glück und Schmerz gehen. Im lächelnden Angesicht des Lebens heben sich diese zwei Zustände aber gegenseitig auf.«
»Es genügt, Ada Ta, Osman will etwas über Īsā erfahren und nicht eine deiner Metaphern hören.«
»Die Tochter, die ich mehr als meine alten Knochen liebe, schimpft mit mir. Wie ihr seht, gehen Freude und Schmerz über die Geburt hinaus und betreffen sowohl den Vater als auch die Mutter. Bitte, meine Tochter, ich ziehe mich zurück, um über Zufälle zu meditieren, die manchmal Zufälle sind und manchmal eben nicht.«
Gua Li holte Luft. Dieser Teil der Geschichte hatte ihr immer die Seele zerrissen.
Der Tod hat eine Farbe, und sie ist weiß. Wie die Furien hatten die kaiserlichen Han-Milizen gebrandschatzt und gemordet, und von dem Dorf waren nur noch rauchende Ruinen übrig geblieben. Überall lagen mit Leintüchern bedeckte Tote; die Umrisse ihrer geschundenen Körper waren unter dem Stoff noch zu erahnen. Die Übriggebliebenen waren vor allem Männer, denn der Tod war über das Dorf gekommen, als sie auf den Feldern arbeiteten, die Ziegen hüteten oder im Tal auf den Märkten waren. Einige der Bön-Mönche berührten die Leintücher mit dem heiligen Khatvanga, dem Stab mit den drei Totenköpfen, die den Sieg des Geistes über einen scheinbaren Tod symbolisierten. Vor einem einzigen Tuch, unter dem in einer letzten Umarmung Gaya und ihre Tochter Gua Pa lagen, stand Īsā und hatte seinen Sohn Yuehan eng an sich gezogen. Er hatte die beiden nicht voneinander trennen wollen, denn so vereint, wie sie zu Lebzeiten gewesen waren, sollten sie auch im Tode sein.
»Wann gehst du?«, fragte ihn Sayed, ohne den Blick von dem Leichentuch zu wenden.
»Morgen oder einen Tag später«, antwortete ihm
Weitere Kostenlose Bücher