Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
darüber nachgedacht hat. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann bezeichnet sich Jesus fast hundertmal als ›Sohn der Menschen‹ und nicht als ›Sohn Gottes‹. Und das Gleiche steht in anderen Evangelien, die davor oder danach verfasst worden sind. Du schüttelst den Kopf …«, seine Stimme wurde sanfter, »aber nicht, weil du dich weigerst zu glauben. Das verstehe ich. Und ich verstehe auch, dass du dich verwirrt fühlst. Du bist wie der Mann, der nach einem Jahr auf einem Schiff zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen hat. Er wird den Eindruck haben, dass die Erde schwankt.«
Ada Ta schien innezuhalten, um nachzudenken. »Ich hatte gesagt, fast niemand habe darüber nachgedacht, wie Jesus sich selbst bezeichnete. Einer aber schon – und das war dein Freund, der edle Giovanni Pico della Mirandola. Er hatte nämlich verstanden. Er hatte einen freien Geist, weil er viel las und wenig Zeit mit den Menschen verbrachte.«
»Er konnte diese Sprache verstehen.«
»Diese und noch viele andere. Ich sehe, dass die dunklen Wolken in deinem Geist vom Wind des Wissens vertrieben werden …«
»Wie hat er von der Existenz dieser Schrift erfahren?«
»Er wusste nichts davon, er war ja kein Schamane. Wie ein Jäger, der den abgebrochenen Zweigen in einem Wald folgt, war er nur einer Fährte gefolgt. Buchjäger haben in einigen unserer Gönpa nach Kopien von heiligen Schriften gefragt. Nach großen Mühen erfuhr Mirandola schließlich, dass auf der anderen Seite der Erde ein Mann dem Weg der Weisheit folgte, und er wurde neugierig. So kam er schließlich zu mir und sprach über die Große Mutter und ich mit ihm über den Sohn. Ganz einfach.«
»Ich verstehe …«
Ferruccio stand auf und ließ Gua Li das Buch zurück an seinen Aufbewahrungsort stecken. Er stand vor dem Kamin und betrachtete das züngelnde Feuer, das die feuchten Holzstämme zum Knistern brachte und weißen Rauch aus ihnen emporsteigen ließ. Er stemmte sich mit seinen Händen gegen die Wand.
»Dank ihm habe ich Leonora kennengelernt, und durch ihn habe ich sie verloren – für immer, fürchte ich. Ich habe euch nicht die ganze Wahrheit über mich erzählt.«
Ohne sich umzudrehen, erzählte Ferruccio dem alten Mönch und der jungen Frau über seine Begegnung mit Giovanni de’ Medici, von dessen wahnsinnigen Plänen und der Entführung Leonoras. Mehr als einmal hatte Gua Li aufstehen wollen, Ada Ta hatte sie jedoch immer wieder mit strengen Blicken daran gehindert.
»Mittlerweile glaube ich nicht mehr, dass der Kardinal Wort hält, besonders nach unserem letzten Treffen«, endete Ferruccio. »Ich glaube vielmehr, dass ich mittlerweile allen zur Last geworden bin: ihm und euch. Und seit ich dich in Aktion sah, mein lieber Freund, glaube ich auch nicht mehr, dass du meinen Schutz brauchst, mein Freund. Das einzig Nützliche, was ich tun kann, ist, mich auf die Suche nach meiner Frau zu begeben – und wenn es das Letzte ist, das ich vollbringe. Bewahrt das Buch sorgfältig auf; es ist mehr wert als nur ein Leben, und traut niemandem, nicht einmal mir. Glaubt mir: Wenn es mir Leonora zurückbrächte – ich würde es verbrennen.«
Versteckt hinter einer Tür hatte Leonardo mit klopfendem Herzen alles mit angehört und sich während der letzten Worte Ferruccios lautlos entfernt. Um die Aufgabe zu erfüllen, mit der ihn sein Auftraggeber betraut hatte, wusste er bereits mehr als genug. Wie es zu allem gekommen war, war nicht wichtig. Für den, der ihn beauftragt hatte, stand viel auf dem Spiel, und sein Leben würde sich vollkommen verändern. Mit zitternden Beinen verließ er den Palazzo durch einen Seiteneingang und machte sich durch die Gassen davon. Die Ursache für sein Zittern schrieb er drei Gründen zu: der Angst, allein durch diese dunklen Gassen eilen zu müssen, in denen jede Begegnung ein böses Ende nehmen konnte. Der zweite Grund war, dass er nur allzu gut wusste, dass er gerade eine verabscheuungswürdige Tat beging, obwohl er die genauen Hintergründe dafür nicht kannte. Andererseits beruhigte er sein Gewissen, indem er sich sagte, dass er wohl kaum einem der mächtigsten Kardinäle der Kurie eine Gefälligkeit abschlagen konnte und dass diese Geste des Gehorsams seine Lebensbedingungen für immer verändern würde. Nach dem Tod seiner Mutter war er, um den Anklagen wegen Sodomie und allzu fordernden Kreditgebern zu entgehen, in ein erzwungenes Exil zu den Türken gegangen. Nichts erschien ihm deshalb
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