Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
über seine Herkunft war in ein Ohr hineingeschlüpft und zum anderen wieder hinausgegangen, ohne sich in den Falten seines Gehirns festzusetzen. Leonardo tat, wie ihm geheißen, und war nur in einem Punkt nachlässig: Er hielt an, um im Kampfzwinger zwanzig Denar auf Castrato zu setzen. Problemlos gewann der Mastiff gegen seinen Gegner, einen Mischling, der aus einer spanischen Dogge eingekreuzt worden war. Der Mastiff schlug ihn mit seiner Pfote zu Boden, biss ihm in die Kehle und hielt ihn so lange fest, bis der spanische Mischling verblutet war. Während er sich über seinen zusätzlichen Gewinn freute und zum Palazzo Colonna zurückging, stellte Leonardo sich einen Karren mit einem mechanischen Kiefer vor, der durch die feindlichen Linien dringen konnte, indem er die Beine des Fußvolks durchtrennte. Gabriel hingegen stellte sich vor, wie er ihn am Hals packte, um zu erfahren, was er dem Vize-Kardinalstaatssekretär der Kirche erzählt hatte. Doch er konnte sich die Szene nicht bis zum Ende ausmalen, denn unversehens traf ihn selbst eine Klinge. Verwundert sah Gabriel an sich herab und sah die Waffe vor Blut glänzen – es war sein eigenes.
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Rom, 16. November 1497
Die Wachen mussten so sehr lachen, dass sich einige von ihnen fast in die Hosen machten: Der hinkebeinige Krüppel hatte die johlende Truppe mit seinen Betteleien, dem unbeholfenen Auffangen der Münzen und den Kapriolen voller lustiger Grimassen überaus erheitert. Geschickt trug er mit zwei Krummsäbeln Scheinkämpfe gegen sich selbst aus – die täuschend echt aussehenden Klingen funkelten bedrohlich im tanzenden Licht der Fackeln und schlugen Funken, wenn sie sich kreuzten. Das Hinkebein überraschte die Wachen daher umso mehr, als er ihnen schließlich seinen Passierschein präsentierte, der ihn als Gesandten des türkischen Botschafters auswies. Als Nächstes gab er ihnen auch noch ihr Geld zurück. Mittlerweile waren die Milizen des Hauses Colonna also seine Freunde geworden – und wahrscheinlich würden sie ihm sogar Einlass in das Schlafgemach des Herzogs gewähren, wenn er sie darum bäte. Trotz alledem wollte sich der diensthabende Soldat in Abwesenheit seines Hauptmanns vergewissern, wer Osman war und was er genau machte. Der Soldat konnte kaum die normalen Passierscheine lesen und war deshalb froh, dass der Krüppel ihm zwischen all den unbekannten Schriftzeichen seinen Namen Osman ibn zeigte und noch dazu eine Zeichnung, die das Symbol der Hofnarren darstellte. Nach dieser gewissenhaften Überprüfung befahl der wachhabende Soldat, ihn durchzulassen – alles habe seine Richtigkeit, versicherte er. Und fügte in Gedanken hinzu: auch die Tatsache, dass ich einen Silberscudo als Obolus in der Tasche trage. Das war schon etwas anderes als die paar Heller, die er Osman hingeworfen hatte!
Nach den vorangegangenen Kapriolen und der ganzen Aufregung schaffte es Osman kaum noch die Stufen hinauf. Es war sehr einfach gewesen, die Wachen im Innern des Palazzos zu täuschen. Würde die Kampftruppe der Assassinen noch existieren, wäre es nicht einmal notwendig gewesen, die Pest zu verbreiten, um das Abendland zu erobern. Im Gegensatz zu ihnen waren die Charidschiten einfach nur Feiglinge, die die anderen vorschickten, während sie sich in ihren Höhlen versteckten. Sie waren nur fähig, wehrlose Menschen zu töten oder sie in den Selbstmord zu treiben – für den sie Belohnungen in Aussicht stellten, an die sie nicht einmal mehr selbst glaubten. Sie waren ausschließlich an Macht interessiert, die sie Gerechtigkeit nannten. Mit einem Faustschlag würden die Assassinen eines Tages alle christlichen Prinzipien hinwegfegen und nicht nur diese, auch der Papst würde dann in seiner Engelsburg nicht mehr sicher sein. Der rituelle Dolchstoß würde ihn lautlos ereilen, mörderisch und präzise wie der Biss einer Kobra. Auch Osman war eine Schlange, nein, schlimmer noch: Er war ein verführter Verführer, betört von einer mächtigen Zauberin, die ihm die Wunder des Paradieses gezeigt hatte und die ihre Machtgier unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit versteckte.
Ihretwegen hatte er an einen grausamen, rachsüchtigen Gott geglaubt. Dieser Gott stand nicht auf der Seite der Unterdrückten und bestrafte diejenigen hart, die seine eisernen Regeln nicht befolgten. Dann, auf diesem Schiff hatte ihm eine Frau – ja, erneut eine Frau – den Gott gezeigt, den er in sich trug. Sie hatte ihn gelehrt, wie er sich aus der Sklaverei der Vergeltung und vom
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