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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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Īsā.
    Yuehan umarmte seinen Vater noch inniger. Sie hatten die ganze Nacht miteinander gesprochen, und er hatte verstanden, dass alles einen Anfang und ein Ende hatte. In seinem Alter war Īsā seiner Familie entrissen worden, und nun war es an ihm, zu reifen und ein Mann zu werden. Sein Vater hatte sich vor vielen Jahren geschworen, in die Heimat seiner Familie zurückzukehren, und nun war der Moment dafür gekommen. Īsā ahnte, dass ihm das Schicksal die Erfüllung einer Aufgabe zuwies, die seit Jahren ruhte. Nur wenn er diese Aufgabe erfüllen und seine Vergangenheit damit endgültig hinter sich lassen würde, würde er seinen Weg, den der Schmerz unterbrochen hatte, wieder aufnehmen können. Während der Reise, hatte sein Vater erklärt, werde er über ihre Zukunft nachdenken, und wenn er eines schönen Tages zu ihm zurückkehrte, würde sie nichts mehr voneinander trennen können. In der Zwischenzeit würde Yuehan bei Sayed wohnen und seine Studien unter der Leitung Ong Pas und der anderen Mönche weiterverfolgen. Heute waren sie in ihren Herzen vereint, und eines Tages würden sie auch ihre Seelen vereinen, mit einem offenen Geiste und größerem Wissen.
    »Verlass mich nicht, Vater.«
    »Du bist mein Sohn, und in deinen Adern fließt mein Blut. Wenn ich zurückkehre, bist du ein Mann, und ich werde derjenige sein, der dich bittet, mir beizustehen. Egal, wofür du dich dann entscheidest – du wirst immer frei sein, dahin zu fliegen, wohin du willst.«
    »Ja, Vater, das verstehe ich. Doch ich bitte dich, verlass mich nicht.«
    Sayed hatte den Wortwechsel mitverfolgt. Nun schaute der alte Freund Īsā aus den Augenwinkeln an, in der Hoffnung, einen Hauch von Zustimmung zu erhaschen. Oft hatte er ihm zugehört, wie er darüber gesprochen hatte, dass die toten Blätter in der Regenzeit abfallen und die Erde für einen neuen Lebenszyklus nähren.
    »Ja«, beantwortete Īsā die stumme Frage, »es ist so, wie du denkst. Wissen heißt handeln und sich auf den richtigen Weg begeben. Ich kann mich meinen Gedanken nicht entziehen und meinen Pflichten genauso wenig. Das Leben gab mir viel und hat mir noch mehr genommen, aber nicht alles. Unsere Existenz ist eine Pacht auf Zeit – kein Besitz –, und daher ist es nur ehrenwert, dafür zu bezahlen.«
    Ī s ā verließ die Berge Indiens und machte sich auf den Weg zurück, um dorthin zu gelangen, wo er geboren war und wo ihn sein Karma erwartete. Es war keine ungefährliche Reise, weder für seinen Körper noch für seinen Geist, und mehrmals war er versucht umzudrehen. Doch keinen Augenblick lang bereute er es, seinem Herzen anstelle seines Verstandes gefolgt zu sein, und jedes Mal, wenn er Yuehans Hand drückte, verstand er, wie viel wichtiger die Liebe als jedes Wissen war. Und darum bereute er es auch kein einziges Mal, dass er ihn doch mitgenommen hatte.
    Oft reihte er sich in die Reihen der Karawanen ein, die ihn anfangs mit Misstrauen aufnahmen. Ein Mann und ein Jüngling ohne Familie und ohne Waren gaben Anlass für allerlei Verdächtigungen. Īsā hätte auch ein Räuber oder ein Spion sein können. Die anderen Reisenden fühlten sich bestätigt, als sie Kandhar, die wegen der angrenzenden Berge die Stadt der steinernen Mauern genannt wurde, hinter sich ließen. In jener Nacht wurden sie von einer berittenen und schwer bewaffneten Räuberbande aus der Wüste angegriffen. Während die Banditen die Karren plünderten, deren Seide und Gewürze für die Händler in Syrien bestimmt waren, war Īsā mit Yuehan regungslos sitzen geblieben. Als die Händler von den Räubern gezwungen wurden, sich auszuziehen und sich auf die übliche körperliche Schändung vorzubereiten, sahen sie, wie Īsā auf den Anführer der Räuberbande zuging und mit ihm sprach. Dieser hörte aufmerksam zu und erteilte seiner Horde schließlich den Befehl, sich wieder auf ihre Pferde zu schwingen und weiterzureiten. Sie nahmen nur ein Zehntel der Beute mit.
    Als die Karawane sah, dass Īsā und der Jüngling nicht mit den Männern geflohen waren, verstanden sie, dass er auf geheimnisvolle Weise ihre Würde und ihren Besitz gerettet hatte.
    »Wie konntest du die Räuber überzeugen?«, fragten sie ihn. »Bist du ein Zauberer oder der Sohn einer Gottheit?«
    Īsā winkte bescheiden ab. Doch da sie auf einer Antwort beharrten, erklärte er ihnen, dass er nur angewandt habe, was er von seinen Meistern gelernt hätte.
    »Die Stimme hat verschiedene Klänge. Der Klang, der eine Einheit mit der

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