Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
»Er ist tot.«
Ohne ein Wort zu sagen, legte Ferruccio seinen treuen Kameraden auf der Decke ab und schloss ihm die Augenlider. Dabei verschwand der erstaunte und schmerzliche Ausdruck von Gabriels Antlitz. Ferruccios Gesicht verdunkelte sich.
»Habt Ihr die Abreise von Meister Leonardo gesehen?«
»Gott hat es so gewollt, ja, er bestach meine Männer.«
»Wann ist er abgereist?«
»Vor etwa einer Stunde. Es erwartete ihn eine Kutsche – einer dieser neuen Wagen mit den Riemen. Ich habe in meinem ganzen Leben erst ein paar von ihnen gesehen. Die Kutsche trug das Wappen des Herzogs Sforza. Als Geleitschutz waren sechs berittene Milizen abgestellt – und noch einer auf dem Wagen, ebenfalls bewaffnet. Ich rate Euch davon ab.«
»Wovon?«
»Ihm hinterherzureiten – das meint Ihr doch? Ich habe es in Euren Augen gelesen. Überlasst mir Euren Diener, ich werde mich um seine Bestattung kümmern.«
»Er war nicht mein Diener.«
»Das gereicht Euch zu Ehre, mein Ritter. Ihr seid ein Soldat wie ich – kein Herr. Und als Offizier sage ich Euch: Befolgt meinen Rat! Wenn Ihr könnt, dann geht fort von hier – seit ein paar Tagen gibt es hier Unruhen: fremde Gesichter, neue Geschichten, ein paar Worte hier und da.«
»Der Fürst garantierte uns …«
»Er ist es nicht. Colonna ist nicht unehrenhaft; er hält mehr auf sein Ehrenwort als auf sein eigenes Leben. Es steckt noch mehr dahinter, und wenn die Ratten das sinkende Schiff verlassen, so wie es der Florentiner tat, dann ist Gefahr im Verzug. Hic sunt leones .«
»Ihr seid der lateinischen Sprache mächtig …«, Ferruccio lächelte vorsichtig, »und habt mich in dieser Sprache gewarnt. Und wenn ich sie nicht verstanden hätte?«
»Lapo Britonio.« Er bot ihm die Hand zum Gruß. Ferruccio ergriff sie. »Es ist unmöglich, dass der Enkel von Paolo de Mola die lateinische Sprache nicht beherrscht.«
Als hätte er ein Gespenst erblickt, zog Ferruccio hastig die Hand zurück.
»Ich kannte Euren Großvater. Vor vielen Jahren habe ich für ihn in Giornico gekämpft. Wir verteidigten die Rechte der Schweizer gegen den Verrat Galeazzos, des älteren Bruders von Herzog Ludovico, und Kardinal Ascanios. Einer gegen zwanzig, und das mit nur wenigen Waffen. Wir kämpften für die Freiheit und beerdigten sie unter einem Haufen aus Steinen und Baumstämmen. Diese Niederlage brennt ihnen heute noch in der Seele, den Sforza.«
»Die Schlacht bei Giornico … mein Großvater hat mir einige Male davon erzählt. Er erzählte auch, dass er diese Schlacht und noch so manche andere mit einigen alten Kameraden, Überlebenden des Templerordens, schlug, um für eine gerechte Sache zu kämpfen.«
»Er war ein ehrenwerter Mann, und manchmal ritten wir Seite an Seite, so wie es der Tradition entsprach. Semel frater, semper frater, Ferruccio de Mola. Einmal in die Bruderschaft der Templer aufgenommen, bleibt man für immer Templer. Ihr seid seiner würdig – seines Namens, den Ihr tragt. Denkt an mich und an ihn in Euren Gebeten, wenn es mich nicht mehr gibt. Und vertraut meinem Rat. Nach diesen Ereignissen ziehen dunkle Wolken auf – das sagt mir mein Instinkt, und darauf würde ich die einzige Gefährtin verwetten, mit der ich meine Schlafstatt teile.«
Der Kapitän schlug mit der Hand auf den Knauf seines Schwertes.
»Und nun geht und sprecht mit Euren Freunden. Es gibt einen Gang, der zu den Kellergewölben führt. Von dort könnt Ihr durch die Pforte der Kutscher entkommen. Gott sei mit Euch.«
»In diesen Zeiten fürchte ich mich sogar vor Ihm .«
Später sagte Ada Ta, dass er darüber meditieren wolle, wie lange ein Hühnerei brauche, um hart, aber nicht grün zu werden. Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger seiner Hände waren das Dreigestirn, auf dem er seinen Körper in der Lotusposition hielt. Zum ersten Mal nahm Gua Li ein leichtes Zittern seines Körpers wahr, so als würde ihn diese Position ermüden, und das war neu für sie. Es war nicht der Gedanke, dass Ada Ta alt wurde, der sie beunruhigte, sondern sein Geruch nach modrigem Laub auf feuchter Erde. Es war ein Geruch der Veränderung, der Verwandlung und Erneuerung, den der alte Mann zum ersten Mal verströmte.
»Es ist nicht angebracht, dass sich der Bär und der Lachs alljährlich an ein und derselben Stelle am Fluss wiederfinden.« Ada Ta, der sich inzwischen auf Hände und Knie stützte und einen Katzbuckel machte, tat so, als würde er sich mit einem Tatzenhieb die Beute zum Mund führen. »Der Fisch ist
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