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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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Atmung bildet, entspannt Körper und Geist. Er kann den Schlaf fördern, Schmerzen lindern und manchmal sogar Gedanken verwandeln. Und je sanfter er ist, desto schneller kann der Klang eine Veränderung des Gemüts herbeiführen. In dieser Beziehung sind Mensch und Tier gleich.«
    »Dann könnte ich also auch meinem Esel befehlen, schneller zu laufen, wenn ich es nur sanft sage, meinst du?«
    »Nur wenn deine Gedanken stärker als die des Esels sind«, antwortete ihm Īsā.
    Und alle lachten; der Frager allerdings nicht.
    Ein Jude, der auf dem großen Markt in Susa fünfzig Amphoren eingelegte Oliven verkauft und dafür Teppiche und Baumwollstoffe erstanden hatte, zeigte ihm seine silbernen Münzen und bat Īsā, sie in Gold zu verwandeln. Īsā, der mittlerweile wieder den Namen Jesus trug, gab dem Drängen des Händlers scheinbar nach und bat im Gegenzug um Nachrichten aus seiner Heimat. Voller Vorfreude auf den unerwarteten Reichtum breitete der Händler vor ihm aus, was sich in den letzten Jahren ereignet hatte: Die Römer hatten einen neuen Kaiser, Tiberius, der allem Anschein nach die Juden als seine Todfeinde betrachtete. Der Händler erzählte, dass sein Cousin in das Exil geschickt worden sei, nur weil er einer römischen Matrone Geld geliehen habe und deshalb des Wuchers bezichtigt worden sei. Und ohne einen Schekel in der Tasche sei er gezwungen worden, nach Jerusalem zurückzukehren.
    »Wenn du angekommen bist, dann stelle dich dem Tetrarchen Herodes vor und nenne ihm meinen Namen. Er ist ein guter Freund, aber nimm dich vor dem Statthalter Pilatus in Acht: Er ist heimtückisch. Und nimm dich weiterhin vor den Galiläern in Acht«, fuhr der Händler fort, »sie sind ein grobschlächtiges und dummes Volk, Bauern ohne Hirn. Sie hassen uns Judäer wegen unserer Stellung und unserer Kultur.«
    »Ich bin auch ein Judäer wie du«, antwortete Jesus.
    »Wenn du Judäer bist, dann gewähre ich dir gerne Gastfreundschaft. Wenn du aber ein Galiläer bist, dann halte dich fern von mir.«
    Seitdem sie das ewige Eis hinter sich gelassen hatten, waren sechs Monate vergangen. Die Erinnerung an den Scheiterhaufen, auf dem die Körper seiner Frau und seiner Tochter verbrannt worden waren, hatte sich tief in Jesu Seele eingebrannt. Jedes Mal, wenn er Yuehan ansah und ihn anlächelte, dachte er an Gaya und Gua Pa. Dann verschwammen Tod und Leben miteinander.
    Jesus nahm die Gastfreundschaft des Juden nicht in Anspruch, und als er an die Ufer des Jordans kam, erkannte er die Palmen und Zedern und wandte sich nach links. Kurz darauf erblickte er die Stadt Gamla, die sich eng an die Golanhöhen schmiegte. Und als er mit dem Finger nach oben wies und seinem Sohn die Stadt zeigte, wurde Jesus wieder zum Knaben und sehnte sich nach seiner Mutter.
    Osman öffnete seine Augen, die er während der Erzählung geschlossen hatte, und wartete, bis Gua Li Luft geholt hatte.
    »Ich kann an meine Mutter nur mit Wut denken«, sagte er. »Mir wurden mehr Liebkosungen von ihren Liebhabern zuteil als von ihr. Sie hat mich nie geliebt, vielleicht weil sie einen ganzen Kerl als Sohn erwartete und dann nur einen Krüppel bekam.«
    »Vielleicht war sie nie fähig, dir zu sagen, dass sie dich liebte«, antwortete ihm Gua Li. »Lieben zu können hängt nicht von uns ab. Es ist ein Geschenk. Doch es ist an uns, es zu zeigen, und das ist in der Tat nicht immer einfach. Wenn ich diesen alten Griesgram nicht besser kennen würde, der mich nicht zu hören scheint, weil er so tut, als würde er mit nach unten hängendem Kopf schlafen, dann würde auch ich sagen, dass er mich nicht liebt, ja mehr noch – ich würde fest davon ausgehen, dass er mich sogar hasst; immerhin hat er mich gequält, seit ich auf der Welt bin. Weil ich ihm aber mein Herz geöffnet habe, weiß ich, dass ich seine liebste Tochter bin.«
    »Wie viele Kinder hat Ada Ta?«, mischte sich Ferruccio ein.
    »Nur mich, doch das tut seiner Liebe keinen Abbruch. Im Gegenteil: Er ist nicht einmal eifersüchtig, wenn ich mit Fremden spreche.«
    Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, und Ferruccio schaute sofort weg. Vielleicht war es nur ihre ganz eigene Art gewesen, auf seinen Einwurf zu antworten, doch er musste Gua Li irgendwie recht geben. Sie behandelte Osman mit der gleichen Vertrautheit, die man für einen alten Freund empfindet. Und er war eifersüchtig – möglicherweise aus einer Art Besitzanspruch heraus. Sein Gefühl für Gua Li war dabei aber ein ganz anderes als das für

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