Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
drei Tage lang im Fieberdelirium verbracht. Sie befänden sich nun in Osmans Haus, weil der Palazzo – nach den Vorfällen mit Kardinal de’ Medici – mittlerweile kein sicherer Ort mehr für sie sei. Ferruccio wirkte verwirrt und misstrauisch. Auch Gua Li plagten Zweifel – die Abwesenheit Ada Tas und die Sorge um ihn lastete wie ein schwerer Stein auf ihrer Brust.
An den darauffolgenden beiden Tagen war Ferruccio still und stellte auch keine Fragen mehr – resigniert hatte er jedoch nicht. Heimlich beobachtete ihn Gua Li und versuchte, seine Gedanken zu lesen. Sie meinte, dass er ihr durch kleine Gesten und geflüsterte Halbsätze zu verstehen geben wollte, dass er sich sehr wohl erinnere und dass er nur darauf wartete, endlich mit ihr allein zu sein, um ihr Vorwürfe machen zu können. Wenn sich ihre Blicke kreuzten, sah Gua Li deshalb schnell weg. Sie war so aufgewühlt, dass sie nicht einmal mehr fähig war, seinen Geruch wahrzunehmen. Sie liebte ihn nicht, sagte sie sich, und verspürte auch nicht mehr die körperliche Lust, der sie – durch das Opium – nicht hatte widerstehen können. Oder vielleicht war das aber doch nur ein Vorwand, um ihr Gewissen zu beruhigen? Um sich nicht eingestehen zu müssen, dass sie etwas Unrechtes getan hatte? Warum aber wollte sie Ferruccio für immer an ihrer Seite haben, um ihn vor sich selbst und der Welt zu schützen, wenn sie ihn doch nicht liebte?
In diesen Tagen war Osmans Hingabe ihr einziger Trost. Er sorgte für sie wie eine Mutter: kam jeder ihrer Bitten zuvor, ging ungefragt einkaufen und half ihr beim Kochen. Er hatte ihr sogar beigebracht, wie man süße, mit Haselnüssen, Pistazien und Walnüssen gefüllte Fladen machte.
»Erwärme etwas Wasser mit Honig und bringe das Gemisch dann mit dem Saft einer Zitrone samt ihrer rauen Schale zum Kochen. Rühre gut um, dann erhältst du einen vorzüglichen Sirup, mit dem du die gefüllte süße Speise bedeckst.«
Osman verströmte einen solch intensiven Duft der Vanilleblume, dass ihr seine Nähe Kopfschmerzen verursachte, ein Übel, unter dem sie üblicherweise nie litt. Gua Li stand vor dem Fenster und starrte geistesabwesend auf die mittlerweile kahle Platane vor dem Haus. Als sie einen Atemzug auf ihrer Haut spürte und den überwältigend traurigen Duft von Jasmin und Ringelblume roch, zuckte die junge Frau zusammen.
»Möchtest du?«
Er stand ganz nah bei ihr, berührte sie aber nicht und sah aus dem Fenster. Gua Lis Herz schlug schneller.
»Was?«
»Erzähle mir von Īsā. Ein letztes Mal.«
»Das werde ich tun. Wirst du mir dann helfen?«
»Ich muss gehen. Dringender denn je.«
Sie sahen einander an und erkannten in den Augen des anderen die Wahrheit.
»Ada Ta ist in Gefahr.«
»Leonora ebenso und ich mit ihr.«
Gua Li wollte ihm antworten, aber ihre Lippen bebten, und sie brachte kein Wort heraus. Ferruccios Blicke sagten ihr, dass sie die eigentliche Gefahr für ihn war. Sie würde ihm antworten, indem sie seiner Bitte Folge leistete.
Eine große Menschenmenge hatte sich an den Ufern des Sees von Tiberias versammelt. Viele waren aus reiner Neugier gekommen, um die Geschichten ihres Bruders zu hören, der bis ans andere Ende der Welt gegangen war und über die seit einiger Zeit jeder sprach. Doch für viele war das, was Jesus zu sagen hatte, mehr. Anfangs waren Jesu Worte nur geflüstert oder hinter vorgehaltener Hand weitererzählt worden; doch dann begannen sich seine Ideen wie die Samen der Pusteblume zu verbreiten, die die Kinder anpusten, um die Engel zu befreien. In ganz Galiläa und über die Provinzgrenzen hinaus waren seine Worte selbst bis zu den fahrenden Händlern und Reisenden vorgedrungen.
Denjenigen, die ihre Hoffnung auf ein würdevolles Leben verloren und sich den Ungerechtigkeiten gebeugt hatten, erschienen die Worte des Mannes, der sich Jesus nannte, verrückt, gefährlich und allzu schwärmerisch. Möglicherweise hörten sie ihm aber genau aus diesem Grund zu und begannen, seine Worte weiterzutragen. Es war, als würde jemand in einer dunklen Höhle Asche aufwirbeln und ihnen die letzte Feuerstelle zeigen, die sie noch hatten. Ein Funke reichte aus, um ihnen den Weg zu zeigen, der sie zurück ans Licht führte. Es war nur eine leise Hoffnung, doch es war die einzige, und sie klammerten sich daran wie Ertrinkende.
Doch seine Zuhörer waren nicht die Einzigen, die sich für diesen Juden, der dem Tode entronnen war und auf so wundersame Weise in seine Heimat zurückgekehrt
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