Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
Vom Netzwerk:
will.«
    Stolz drehte sich die Frau um, lächelte mit ihren strahlend weißen Zähnen in die Menge und ging davon.
    »Wer bist du, dass du so sprichst?«
    Ein kleiner und untersetzter Mann kam auf Jesus zu, drehte sich zu der Menge um und wiederholte die Frage.
    »Sie sagen, du seiest von weit her gekommen«, fuhr er fort. »Willst du die Religion unserer Väter verleugnen?«
    »Wer bin ich, dass ich die Schriften verleugnete!«, antwortete Jesus. »Sie müssen mit Respekt behandelt werden, so wie alle alten Schriften, die Weisheit und Glaubensregeln überliefern. Aber die Zeiten haben sich geändert: Wir leben nicht mehr wie Abrahams Zeitgenossen. Und man kann nicht das gleiche Gewand, das man im Sommer trägt, auch im Winter tragen. Das, was einmal richtig war, um Schande und Kriege oder Krankheiten abzuwenden, muss heute nicht mehr unbedingt richtig sein. Das Recht, frei zu entscheiden, ist heiliger als jedes Gesetz. Wir müssen unsere Gedanken verändern, nicht diese Frau ihre Entscheidung.«
    Mit zusammengepressten Lippen breitete der Mann zustimmend die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst.
    »Unser Jesus ist mehr als ein Meister«, schrie er dann in die Menge. »Er ist ein Zaddik, denn er ist fähig, die Sünden unserer Brüder für nichtig zu erklären und die unserer Schwestern auch. Worauf wartet ihr? Macht ihn zu Eurem Messias! Salbt ihn mit Öl, so wie es die Frau im Überfluss mit ihrer Haarpracht tat. Könnte er nicht der wahre Messias sein, auf den unser Volk schon so lange wartet und über den der Prophet Obadja in seinem Buch spricht? Schaut ihn euch an! Vielleicht ist er der Erlöser unseres Volkes!«
    So sprach er und verschwand in der Menge.
    Nur noch das sanfte Plätschern der Wellen des Sees und ein paar kleine Kinder, die weinend auf dem Arm ihrer Mütter saßen, begleiteten die darauffolgende Stille. Jesus sah sich um und schaute in die Gesichter der Menschen und auch in das von Judas und Jakob. Er las in ihnen die erwartungsvolle Spannung auf das, was er dem Mann antworten würde. Er wusste, wenn er sagen würde folgt mir – sie würden ihm folgen. Und er wusste, dass es kein Zurück mehr gäbe, wenn er sie spräche. Judas verstand ihn und kam näher.
    »Lass sie warten. Jetzt ist der Moment gekommen, um sie fortzuschicken. Doch schicke sie zufrieden fort, so wie du es immer tust.«
    Die leuchtenden Sterne begleiteten die Letzten, die sich entfernten und glücklich waren, dass sie gebackenen Fisch und warmes Brot gekostet hatten. Niemand fragte sich, wie es möglich war, dass Jesus ihnen den Imbiss beschert hatte, gab es doch weder Töpfe noch Feuerstellen. Judas legte seinen Arm um die Schulter seines Bruders.
    »Alle haben sie es geglaubt. Ich weiß nicht, wie du das machst, aber wenn du nicht mein Bruder wärst, würde ich glauben, du seist ein Dämon. Und jetzt sag nicht, dass du sie hintergangen hättest. Du hast sie nur getröstet, und das war großmütig von dir und richtig.«
    Jesus antwortete nicht. Er sah einen einsamen, letzten Schatten, der näher kam. Erst als sie kurz vor ihm stand, erkannte Jesus die Frau, mit der er vorher gesprochen hatte.
    »Ich möchte dir nahe sein, und ich weiß, dass du meine Worte nicht missverstehen wirst. Du bist anders als die anderen«, sagte sie.
    Dann lächelte sie Yuehan an, der ihren Gruß erwiderte, indem er seine Hände aneinanderlegte und den Kopf neigte. Sie tat es ihm gleich.
    »Ich lebe mit meinem Sohn und meinen Brüdern, und ich habe kein Haus, in dem ich dich beherbergen könnte«, sprach Jesus.
    »Ich verfüge über ausreichend Geld und gebe mich mit wenig zufrieden. Ich werde deiner Mutter dienen und ihr helfen.«
    »Wie heißt du?«
    »Maria, wie deine Mutter, und ich komme aus dem nahen Magdala.«
    Ferruccio legte seine Hand auf Gua Lis Mund.
    »Ich bitte dich: Hör auf! Ich will nichts mehr wissen. Ich glaube, deine Worte haben meine Wunden geheilt. Eine blutet vielleicht noch, doch ich bin bereit, dir zu helfen. Jesus meinte: Eintracht, nicht wahr? Mein Schwert ist zurückgekehrt, und wenn Ada Ta wieder unter uns weilt, dann wird mir sein Stock behilflich sein, Leonora wiederzufinden.«
    Da trocknete sich Osman seine Tränen, humpelte langsam zu ihnen hinüber, und sie umfassten sich alle drei in einer einzigen innigen Umarmung. In diesem Moment stieg die Liebe Allahs zum ersten Mal tief in ihn hinab.

42
    Rom, 23. November 1497,
in der Engelsburg
    Durch eine schiefe Tür kam ein bis auf die Knochen durchnässter Soldat

Weitere Kostenlose Bücher