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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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Grüppchen gesprochen, nun kamen die Menschen zu Hunderten, um ihn zu hören. Bisher hatte es ihn nicht weiter gestört, wenn seine Reden nicht jeden erreichten und das, was er sagen wollte, nur in den einfachsten Seelen Wurzeln schlug. Plötzlich spürte er jedoch die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, da er diese bunt gemischte Menge aus allen gesellschaftlichen Schichten vor sich hatte: Schreiberlinge und Priester, römische Soldaten, Bauern, Händler und manchmal sogar Wächter mit ihren in Ketten liegenden Gefangenen; sogar Rosinen naschende, edle Herren kamen in vergoldeten Sänften, deren Leinenvorhänge sich in der sanften Brise, die vom See her wehte, bauschten.
    Judas hatte Jesus ermuntert, die rhetorischen Techniken anzuwenden, die er von den Mönchen und Ong Pa gelernt hatte. Er müsse sich kleiner Tricks bedienen, hatte Judas ihn zu überzeugen versucht, immerhin würde er dies ja nicht aus Berechnung oder Arglist tun, sondern um die Menschen besser erreichen zu können; um ihr Gewissen wachzurütteln und sie zu verwirren, zu erstaunen und zu verzücken. Immerhin ginge es doch darum, dass die Bewegung Fuß fassen könne, selbst dann, wenn Jesus sie wieder verlassen sollte – von Gamla bis Akkon, von Kain bis Naîn, ja sogar von Jerusalem bis zum fernen Masada. Damit die Gerechtigkeit, die Freiheit und die Liebe, die Jesus predigte, endlich Früchte trügen.
    Yuehan war voller Stolz auf seinen Vater und schlug Jesus vor, das Wunder zu wiederholen, das er vor einiger Zeit auf einer Hochzeit gewirkt hatte. Am Ende hatten die Gäste dem Gastgeber für den exzellenten Wein gedankt, der in Wirklichkeit nur Quellwasser gewesen war. Als Maria ihre Söhne auf dem Rückweg gefragt hatte, weshalb sie so lachten, hatte ihr Judas die Wahrheit erzählt. Zuerst hatte sie den Kopf geschüttelt und Jesus getadelt, doch als sie in die lachenden Gesichter ihrer Kinder und ihres Enkels geblickt hatte, hatte auch sie in ihr Lachen eingestimmt.
    Anfangs hatte Jesus Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen, denn die Menschen verlangten grölend, dass er zu ihnen spräche, verstanden in dem Lärm jedoch nicht einmal ihr eigenes Wort. Deshalb begann Jesus zu flüstern. Das war laut Ong Pa die beste Methode, um sich Gehör zu verschaffen, wenn alle anderen schrien. Tatsächlich wurde die Menge leiser und verstummte schließlich ganz. In die vollkommene Stille hinein sprach Jesus schließlich mit erhobener Stimme, laut und deutlich zu ihnen.
    Er sagte ihnen, dass alle gleich seien, Männer wie Frauen, ohne Ausnahme. Ein paar Zuhörer runzelten die Stirn. Er fügte hinzu, dass das Leben heilig sei und es niemandem, weder einem Mann noch einem König erlaubt sei, es zu nehmen. Er erklärte, dass es nicht ausreiche, nicht nur nichts Unrechtes zu tun, sondern dass man auch Gutes tun müsse, um als ehrenwert angesehen zu werden. Nur so verdiente man sich den Respekt der Lebenden und später einen Stein auf seinem Grab. Er behauptete, dass es richtig sei, sich gegen Ungerechtigkeit zu erheben, und dass es an der Zeit sei, eine Veränderung herbeizuführen.
    Tosender Beifall erhob sich.
    Maria war glücklich, und Judas hob seine geballten Fäuste gen Himmel, während Jakob gedankenvoll lächelte.
    Viele Männer richteten Fragen an Jesus und nickten einander bei seinen Antworten zu. Auch eine Frau wagte es, sich Jesus zu nähern. Als sie an den anderen Zuhörern vorbeiging, begann ein aufgeregtes Tuscheln.
    »Sie nennen mich Sünderin, denn ich wollte mich nicht mit dem Mann vermählen, den meine Eltern mir aussuchten«, eröffnete sie ihre Frage. »Ich wollte für meinen Ehemann Liebe empfinden, doch ich habe ihn nicht gefunden. Du, der du über Gerechtigkeit sprichst, sage mir: Warum bestraft mich Gott so hart, indem er mir keinen Mann schickt, der mich will und den ich will?«
    Jesus sah ihr in die Augen. Er sah keinerlei Furcht darin. Ihre geölten, rabenschwarzen Haare, die sie offen trug, glänzten in der untergehenden Sonne.
    »So wie ich es sehe, hast du weder eine Sünde begangen noch einen Fehler gemacht, als du die Ehe ausschlugst. Du bist vielmehr dem Weg deines Herzens und der Freiheit gefolgt. Das ist dein gutes Recht. Bleib, wie du bist. Niemand soll dich bestrafen – im Gegenteil: Deine Mitmenschen sollten dich eher bewundern und dich ansehen, wie all die Männer hier es taten, als sie seinen Worten lauschten. Derjenige, der dich verleumdet, tut es nur, weil er selbst von dir geliebt werden

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