Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
konnten sie den Geruch der Toskana bereits riechen. Wenn sie heil über die Grenze kämen, wären sie fast am Ziel.
Als Gua Li nach einem Abendessen aus Brot und Zwiebeln Osmans Bitten erhörte und ihre Erzählung wieder aufnahm, erschienen ihm die Episoden allerdings eher auf sie beide bezogen als auf einen Mann namens Jesus.
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Wenn er nicht in die Schule zu den Gelehrten ging, verbrachte Yuehan viel Zeit bei seiner Großmutter, die ihm süße, mit Honig bestrichene Fladen aus Mehl, Eiern und Rosinen zubereitete und Geschichten aus der Kindheit seines Vaters und dem Ursprung des Volkes, dem auch er angehörte, erzählte. Er sprach mit ihr über den Schnee, den sie nie gesehen hatte, über die Berge, die riesigen Bären und die Weisheit der Mönche. Ab und an beschwerte er sich über die Meister des Sanhedrins, die Regeln lehrten, ohne sie zu begründen und ihre Existenz mit der pauschalen Begründung rechtfertigten, dass sie der Wille Gottes seien und darum akzeptiert werden müssten. Maria lächelte, und wenn sie allein waren, gab sie ihrem Enkelsohn voll und ganz recht.
Eines Abends, als sie unter dem Portikus saßen, auf den der Regen niederprasselte, erzählte Yuehan zum ersten Mal von seiner Mutter und seiner Schwester. Erzählte, wie sein Vater jedes Mal beim Nachhausekommen seine Frau umarmte. Maria hörte ihm wortlos zu. Was sie am meisten rührte, war, dass Yuehan von seiner Mutter und seiner Schwester sprach, als seien sie noch am Leben. Das verlorene Glück, das sich in die Seele ihres Enkels eingeschrieben hatte und aus seinen Blicken sprach, schmerzte sie so sehr, dass sie unter einem Vorwand ins Haus ging, um sich ihre Tränen zu trocknen. In jener Nacht legte sie sich neben ihn und hielt ihn fest in ihren Armen.
Und so war Jesus nicht traurig, als Yuehan es vorzog, bei Maria zu bleiben und ihn nicht in die Oase von En Gedi zu begleiten, die sich in der Nähe des Toten Meeres befand. Dort würde Jesus sich mit einer Gruppe Judäer treffen, die sich ›Essener‹ – die Reinen – nannten. Sie lebten nach asketischen Regeln und strebten danach, sich vom römischen Joch zu befreien und sich gegen die schändliche Verhaltensweise des Großen Sanhedrins zu erheben, dessen Autorität sie nicht mehr anerkannten. Sie hatten sich an Jesus gewandt und ihn eingeladen, um mehr über seine Gedanken und seine Lehre zu erfahren.
»Ich habe dir doch prophezeit, dass du die Menschen überzeugen würdest«, sagte Judas immer wieder zu seinem Bruder. »Sie brauchten ein deutliches Zeichen von dir, um glauben zu können. Und nun hast du es geschafft: Viele glauben an dich, an uns und unsere Ideale, und es werden täglich mehr. Die Menschen haben ihr Bewusstsein dafür, wer wir sind und wohin wir gehören, zurückerobert und vielleicht auch die Hoffnung, wieder zu einem einzigen Volk zu werden.«
Über einen engen Pfad gelangten sie an einen Wasserfall, der zum Baden einlud, doch von all den Frauen war Maria Magdalena die Einzige, die unter den verdutzten Blicken der Männer heiter in das plätschernde Wasser stieg.
»Tadelst du mein Handeln?«, fragte sie Jesus, der noch am Ufer stand. »Habe ich etwa kein Recht darauf, mich an dem kühlenden Wasser zu erfreuen? Ich bin mit euch gegangen und habe das Brot, den Käse und die Mühen mit euch geteilt.«
»Die Sünde ist nur in den Augen derer, die dich betrachten. Wenn du es nicht getan hättest, dann hätte ich dich dazu aufgefordert, ein Bad zu nehmen.«
»Du gefällst mir, denn du bist weder heilig noch scheinheilig, sondern gerecht.«
Noch bevor Jesus ihr antworten konnte, tauchte Maria Magdalene schon in die Fluten ab und schwamm bis zum anderen Ufer. Kurz darauf erschienen aus den Höhlen, die über dem See lagen, viele weiß gekleidete Männer, die sich um die Quelle versammelten. Jesus stieg aus dem Wasser und ging ihnen entgegen; Judas folgte ihm wie sein eigener Schatten.
»Ich bin Ethan ben Avraham, Rechtsgelehrter. Wir haben viel über dich gehört, Jesus. Die Leute sagen, du hättest magische Kräfte – wir aber interessieren uns nur für das, was du zu sagen hast.«
»Ich sage nur das, was ich auch glaube und was ich gelernt habe. Dass man stets die Wahl zwischen Gut und Böse hat zum Beispiel und dass diese Wahlmöglichkeit den Menschen ausmacht.«
»Ich bin deiner Meinung: Bait heißt ›Haus‹ in unserer Sprache. Gleichzeitig ist es auch das erste Gesetzeswort. Es ist von drei Seiten verschlossen, aber an der linken offen, um dem Bösen
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