Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
kleines Übel zu kurieren, wurde in der Nacherzählung zur Wiederauferstehung eines Toten.
Trotzdem verstand Jesus in dieser Zeit auch, dass Ong Pas Lehren nicht einfache Tricks oder Täuschungen des Geistes waren: Die Verbindung zwischen Körper und Geist zu einer Einheit ließ die Menschen wirklich gesunden. Eine heitere Seele, hatte ihm sein Meister stets gesagt, produziere Lebensenergie, die sich sowohl ins Innere als auch auf das Äußere des Körpers übertrage. Man werde gesünder und schöner – aber natürlich nur bis zu einem gewissen Grad.
Maria Magdalena war heiter, weil sie für Jesus jeden Tag schöner wurde. Sie wich ihm nicht von der Seite, und wenn er zu den Menschen sprach, suchte er stets ihren Blick, sodass es sich anfühlte, als spräche er nur zu ihr. Jesus vertraute ihr auch seine Zweifel an, mehr noch als seinen Brüdern oder seiner Mutter, die ihre ganze Aufmerksamkeit Yuehan widmete, den er wie nie zuvor wachsen und gedeihen sah.
Die Trockenzeit neigte sich dem Ende zu, und der erste Regen kam. Eilig hatten sie Megiddo verlassen, wo Jesus mit zwei pharisäischen Rabbinern, Hillel und Schammai, aneinandergeraten war. Vor allem Schammai hatte ihn vor einer großen Menge beschuldigt, die Künste des Dämons auszuüben, weil Jesus einen Stummen geheilt hatte. Schammai hatte lauthals geschworen, ihn vor den Großen Sanhedrin zu bringen. Die Menge hatte sich daraufhin in zwei Lager gespalten, und einige, unter ihnen auch Judas, hatten Schwerter und Knüppel geschwungen. Um die aufgebrachte Menge zu beruhigen und zu verhindern, dass sich der Disput in einen blutigen Kampf verwandelte, hatte Jesus vor den beiden Rabbinern versprochen, dass er ihnen Gehorsam leisten und nie mehr Wunder vollbringen werde – obwohl aus dem Guten, wie etwa einer Heilung, niemals etwas Böses entspringen könne. Mittlerweile waren es viele, die seine Worte in ganz Palästina wiederholten, aber auch in Syrien und in Ägypten. Der Samen war gesät worden, und das war es, was zählte. Die Früchte würden andere ernten.
Ein Unwetter überraschte sie, und die Gruppe zerstreute sich hektisch. Die Blitze teilten den Himmel und erleuchteten in der Ferne den Berg Tabor, der wie eine gigantische Beule aus der Erde zu brechen schien.
»Bitte lass uns anhalten. Ich habe Angst!«, rief Maria Magdalena erschrocken.
Noch nie hatte Jesus sie so voller Furcht gesehen. In einer Schäferhütte aus Kalk und Schilf fanden sie Schutz vor dem Unwetter. Maria zitterte am ganzen Leib und schlang die Arme um sich. Da sie nichts hatten, um das Heu anzuzünden, benutzte Jesus es, um sie trocken zu reiben. Er stellte sich jedoch so ungeschickt an, dass sie sich zu ihm umdrehte und ihn anlächelte.
»Man sieht, dass du ein Mann bist. Keine Frau würde das so machen. So werden wir nie trocken. Dreh dich um und zieh dich auch aus. Du bist nicht unsterblich, und wenn das Wasser auf deiner Haut erkaltet, wird der Husten dich in den nächsten Tagen von innen auffressen.«
Sie rieben sich gegenseitig trocken, und dabei wurde ihnen warm. Dankbar streichelten sie einander über die Wangen. Maria Magdalena hielt Jesu Hand, die er auf ihre Schulter gelegt hatte, in der ihren. Mit der freien Hand streichelte er über ihr nasses Haar, und sie strich ihm sanft mit ihrem Handrücken über den Bart. Ihre Herzen schlugen in einem einzigen Rhythmus und hielten im gleichen Moment unruhig inne. Dann fassten sie sich an den Händen, ihre Gesichter kamen sich ganz nah, und ihre Lippen berührten sich zum ersten Mal. Ungläubig ließ Jesus seinen Zeigefinger zwischen ihre Brüste gleiten und weiter hinab bis zu ihrer Leibesfalte. Maria streichelte seine Brust. Sie konnten ihre Blicke nicht voneinander abwenden, nicht als sie sich auf das Heubett niederließen und auch dann nicht, als sie sich ihren ersten innigen Kuss gaben, dem weitere folgten. Ihre Körper antworteten auf den Ruf ihrer Seelen; sie umklammerten einander, erschauerten und gaben sich dann ganz ihrer Erregung hin. Für einen Moment erschien in Jesu Seele der Geist Gayas. Sie sah, dass er glücklich war, entschwand lächelnd, und als er in Maria Magdalena glitt, war es so selbstverständlich wie die Liebe, die sie vereinte.
44
In den Kerkern der Engelsburg,
30. November 1497
Der Folterknecht verstand sein Geschäft, was Bruder Francesco sehr beruhigte. Er hoffte, dass der schmächtige Alte bald aufgeben würde. Er müsste nicht einmal gestehen – es würde schon reichen, wenn er sich bereit
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