Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
anhören.«
Die Spione des Sanhedrins beobachteten Jesus seit geraumer Zeit. Beflissen notierten die Schreiberlinge jede Denunzierung und brachten sie den Altvorderen und Priestern zur Kenntnis. In der Öffentlichkeit bezichtigten sie Jesus der Scharlatanerie, doch innerhalb des Rates warnten sie vor ihm. In ihrem Inneren beneideten sie ihn jedoch für seinen Ruhm und die Macht, die er innerhalb so kurzer Zeit über das Volk erlangt hatte.
Die anderen Geistlichen saßen im Halbkreis um den ehrwürdigen Hohepriester Kaiphas herum und disputierten lebhaft. Kaiphas blickte zu seinem Schwiegervater hinüber und eröffnete auf dessen Nicken hin die Sitzung. Die beiden Sekretäre an seiner Seite zählten die anwesenden Mitglieder des Sanhedrins – sie waren mehr als dreiundzwanzig und damit beschlussfähig.
»Ich spreche auch im Namen anderer«, Nikodemus Ben-Gurion erhob sich von seinem Platz. »Dieser Mann hat bereits viele Zeichen gesetzt. Wenn wir ihn weitermachen lassen, werden am Ende alle an ihn glauben. Was dann folgt, liegt jedoch auf der Hand: Die Römer werden unsere Nation und alle heiligen Orte zerstören. Ohne Anklage können wir diesen Jesus allerdings nicht verurteilen. Doch sagt mir: Wessen sollen wir ihn beschuldigen? Alles, was man ihm zur Last legen kann, ist, dass er auf der Seite desjenigen Volkes steht, das wir repräsentieren.«
»Genug disputiert!« Kaiphas gab seinem Sekretär ein Zeichen. »Jetzt wird gehandelt! Wenn es kein Gesetz gibt, um ihn zu verurteilen, dann machen wir eines!«
»Nikodemus hat recht«, wandte ein Ratsmitglied ein.
»Ihr habt nichts verstanden!« Kaiphas’ Stimme wurde schrill. »Es ist besser, eine einzelne Person zu opfern als eine ganze Nation.«
Josef von Arimatäa erhob sich und schüttelte ungehalten den Staub von seiner schwarzen Tunika. »Der Sanhedrin kann keine Gesetze erlassen, sondern sie nur anwenden«, donnerte er.
Der Hohepriester wurde rot.
»Josef Kaiphas wollte damit sagen«, griff Hannas in die Diskussion ein, »dass Jesus verurteilt werden soll, weil er die heiligen Gesetze nicht achtet.«
»Wir sollen ihn einfach so verurteilen? Ohne ihm den Prozess zu machen? Ohne seine Verteidigung anzuhören? Das ist der Umsturz der Gesetze und all unserer Traditionen. So handeln Tyrannen.«
»Schluss damit, wir kennen deine Sympathien«, sagte Hannas zu Josef. »Wenn du nicht einverstanden bist, dann stimmst du eben dagegen.«
Als die Sekretäre die Stimmen der siebenundzwanzig Anwesenden ausgezählt hatten, erhob sich Gamaliel.
»Vierundzwanzig sind für eine Verurteilung, drei für Freispruch. Damit wird die Gefangennahme angeordnet.«
Auf der Heimreise nach Arimatäa haderte Josef, weil er kein Weib hatte, mit dem er über seine Zweifel sprechen konnte: Wäre es legitim gewesen, sich gegen ein ungerechtes Gesetz aufzulehnen, oder sollte man es stillschweigend hinnehmen – und möglicherweise gar achten? Diese Frage hatte sich auch der Grieche Platon gestellt, als er die Geschichte von Sokrates erzählte, der sich entschied, aus dem Schierlingsbecher zu trinken, obwohl er hätte fliehen können.
»Die Juden haben unseren Heilsbringer Jesus Christus ermordet. Diese Schuld wird immer auf ihnen lasten. Nichtsdestotrotz gäbe es ohne sein Opfer keine Erlösung und daher auch keine Errettung.«
Savonarola schien eher zu sich selbst als zu Gua Li zu sprechen.
»Um seinen Willen zu vollbringen«, fuhr der Mönch fort und zeigte mit dem Finger gen Himmel, »hat Gott den Sanhedrin bewaffnet. Zum Wohl der Menschheit hat er seinen einzigen Sohn geopfert. So wie Abraham.«
»Eine Mutter würde ihren Sohn niemals opfern. Mein Meister sagt, dass das Leben heilig ist, dass es der Sinn der Existenz an sich ist und nicht zu anderen Zwecken dient. Und wenn Gott eine Mutter wäre, dann wäre vielleicht nicht …«
»Schweig sofort! Gott ist … Das ist ein … ein … Mysterium. Es ist uns nicht vergönnt, es zu erfahren. Nein, fahre fort, ich möchte noch mehr über deinen Jesus wissen. Deine Worte werden mein Büßergürtel sein.«
Die geheime Nachricht entwich dem Tempel und durchdrang wie eine nächtliche Nebelschwade lautlos die Mauern Jerusalems, breitete sich in den Niederungen aus, stieg bis auf den Berg Ephraim, glitt hinab bis nach Galilei und hinauf bis nach Gamla, wo Jesus sie aus den Mündern seiner Brüder erfuhr – noch bevor die Depesche mit dem Haftbefehl die römische Garnison erreichte.
»Du musst dich eine Zeit lang verstecken«, meinte
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