Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Judas. »Wenigstens so lange, bis die Römer müde werden, dich zu suchen.«
»Ich glaube, das wird nichts bringen«, wandte Jesus ein. »Sonst werden sie euch holen – euch und meinen Sohn, unsere Mutter und Maria Magdalena. Ich muss mich ihnen stellen.«
»Und wie? Soweit wir wissen, haben sie dich bereits verurteilt. Der einzige Weg wäre vielleicht, das Volk zu deiner Verteidigung aufzurufen.«
»Nein«, sagte Jesus entschlossen. »Und nun hört mir zu. Wir wussten, dass es so kommen würde: Wenn man einen Hund reizt, wird er über kurz oder lang zubeißen. Ich bereue nichts. Die Samen, die ich gestreut habe, sind nicht verloren. Hass wird nicht mit Hass vergolten, zu keiner Zeit. Hass kann nur durch die Liebe ausgelöscht werden: Das ist das ewige Gesetz. Lasst es zu, dass sie mich holen. Ich werde mich schon zu verteidigen wissen.«
In dieser Nacht lenkte Jesus seine Gedanken zu Ong Pa und betete zu seinem Meister, dass er ihm helfen möge, stark zu sein, seine Ideale nicht zu verraten und seine Lieben zu beschützen.
Maria Magdalena flehte den Gott Abrahams an, dass er Jesus erretten möge. »Komm«, sagte sie dann und nahm ihren Liebsten bei der Hand.
Gemeinsam gingen sie den Pfad am See entlang. Unter dem dichten Blattwerk eines Maulbeerbaumes blieben sie stehen und betrachteten den schmalen Silberstreifen, der sich auf den ruhigen Wassern spiegelte. Maria Magdalena nahm sein Antlitz zwischen ihre Hände, schaute ihm in die Augen und sah die Zukunft zerbrechen. Jesus schien ihre Tränen nicht zu bemerken und war sanftmütig wie immer. Er lehnte sich an sie.
»Bin ich zu schwer für dich?«, fragte er schüchtern.
»Nein«, antwortete sie ihm und umarmte ihn. »Außer deinem Fleisch und deinen Knochen hast du nämlich eine überaus leichte Seele, die gerecht und gut ist.«
»Vielleicht ist sie ja deshalb so leicht, weil du mich zum Fliegen bringst.«
Sie küssten einander, erst zärtlich, dann leidenschaftlich und ließen ihre Körper ineinander verschmelzen.
»Blasphemie!«, schrie Savonarola. »Ihr wisst ja nicht, was Ihr da sagt!«
Der Mönch hielt sich die Ohren zu und presste die Lippen aufeinander. Vor lauter Erregung hielt er die Luft an, und erst als er sah, wie Osman und Gua Li aufstanden und leise den Raum verließen, atmete er wieder aus.
Er schloss die Tür ab, holte seine Lederpeitsche hervor und geißelte seinen Rücken so lange, bis er erschöpft auf die Knie fiel.
46
Die letzten Tage im Jahr 1497
Die Nonne bedeutete Ferruccio, draußen zu warten, und trat mit Zebeide in den Krankensaal. Die treue Dienerin ging unsicher zwei Schritte neben ihr und blieb mit hochgezogenen Schultern und ineinander verschränkten Fingern verunsichert stehen, als sie die langen Bettenreihen sah. Das gesamte Dormitorium war belegt. Von einem Eisengerüst an der Decke hingen schneeweiße Leinenvorhänge herab, die den Saal unterteilten und ein wenig Privatsphäre schafften. Während Zebeide der Nonne folgte, erspähte sie vage Schatten hinter den Leinentüchern. Zebeide stellte sich die gemarterten Körper mit ihren Wunden vor und bekreuzigte sich.
»Hier ist sie«, flüsterte ihr die Nonne zu. »Sei aber leise und störe die anderen nicht.«
Fragend zeigte Zebeide auf eine Tür und erhielt als Antwort ein Stirnrunzeln.
»Du kennst deine Herrin«, fuhr die Nonne eisig fort. »Du wirst ihr sagen, dass ihr Gatte hinter dieser Tür auf sie wartet, und dann wird sie entscheiden, ob sie sich ihm erneut zuwenden möchte – oder dem Herrn.«
Sie schob den Vorhang beiseite und stieß Zebeide zum Bett. Ihre Beine zitterten, als sie das blasse Antlitz ihrer Herrin sah. Es war von einem Baumwolltuch umrandet, das ihre Haare verdeckte, die Wangen und einen Teil der Stirn. Es schien, als habe Leonora ihre Entscheidung bereits gefällt. Langsam hob und senkte sich ihre Brust – dies war jedoch das einzige Zeichen, dass sie noch am Leben war. Als Zebeides Blick an ihrer Herrin hinunterwanderte, sah sie eine runde Masse, die auf ihrem Leib lag, und geschockt hielt sie sich den Mund zu. Leise seufzend öffnete Leonora die Augen.
»Zebeide …«
Die Frau warf sich auf die Knie und nahm Leonoras Hand.
»Oh Herrin, meine Herrin! Gott sei gedankt, Ihr lebt!« Die Tränen liefen der treuen Dienerin über die geröteten Wangen. »Wie habe ich gelitten, weil ich nichts von Euch wusste. Welch ein Schmerz, welch ein Schmerz, Euch in diesem Zustand zu sehen! Oh, hätte der Herr dieses Leid doch für mich
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