Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Bocksdornbeeren wahr – süß und bitter zugleich. Es war der Geruch des kämpfenden Kriegers, der sich nach nichts so sehr wie dem Frieden sehnt. Der Mönch saß am Schreibtisch und beugte sich vor.
»Was schmerzt Euch?«, fragte er Gua Li.
»Das Warten auf einen Menschen, der mir sehr nahesteht. Die Ungewissheit, wie es ihm wohl ergeht und seine Abwesenheit.«
»Die Antwort liegt in den Händen und dem Erbarmen Gottes, den Ihr verleugnet.«
»Wie könnte ich den Geist, in welcher Form auch immer er sich manifestiert, verleugnen, wenn er dem Menschen innewohnt?«
»Ich teile deine Meinung. Doch der Sohn Gottes kam auf die Welt, um die Menschen zu ihrem verlorenen Vater zurückzuführen.«
»Ich kenne eine andere Geschichte, und ich bin hierhergekommen, um die Worte der Liebe zu überbringen, die den Menschen in ein besseres Wesen verwandelt.«
»Dann werde ich Euch zuhören. Vielleicht verlaufen unsere Wege unterschiedlich, doch sie führen in die gleiche Richtung, wie mir scheint.«
»Das sagt auch Ada Ta.«
»Wer ist das?«
»Derjenige, der mir so sehr fehlt.«
Der Mönch faltete die Hände und stützte sein Kinn darauf. Die Stimme der Frau irritierte ihn. Mit dieser Stimme würde die Heilige Madonna zu ihm sprechen, wenn der Tag käme. Er trat mit dem kleinen Zeh an das Tischbein, um sich für diesen frevlerischen Gedanken zu bestrafen. Dieses Weib konnte genauso gut ein Teufel sein – manchmal war es schwer, die Grenze zwischen Wahn und Weisheit zu ziehen. Er musste ganz besonders auf Gott hören, dann würde dieser ihm diese Grenze weisen und ihm Klarheit verschaffen.
»Erzählt mir von dieser Botschaft der Liebe, deren Überbringerin Ihr seid.«
»Das ist eine sehr lange Geschichte.«
»Es reicht ein Zweig, um den Baum zu erkennen.«
Um nicht mit Jesu Mutter verwechselt zu werden, nannten viele Maria mittlerweile Magdalena. So sehr sie auch versuchte, Yuehans Zuneigung zu gewinnen – es wollte ihr nicht gelingen. Der Jüngling, der zwischenzeitlich viele Männer um Haupteslänge überragte, entzog sich ihr freundlich, aber bestimmt. Doch das war nicht das größte Problem: Die Beliebtheit von Jesus war inzwischen so gewaltig, dass ihn die Menschen, wo immer er auftauchte, den Wind der Wüste nannten. Denn so wie Sandkörner in die engsten Ritzen der Häuser einzudringen vermögen, so drangen auch seine Worte bis zu den engstirnigsten Gemütern vor. Er wurde als der von Jesaja prophezeite Messias bejubelt: als vom göttlichen Geist erfüllter Racheengel, der gekommen war, um das Volk Palästinas vom römischen Joch zu befreien. Jesus sprach oft mit Maria Magdalena über seine Zweifel und seine Ängste. Das Volk hatte noch nicht verstanden, dass es sein Ziel nur erreichen könnte, wenn es als Volk zusammenstand und geeint auftrat. Daran war jedoch nicht zu denken – denn alle waren sie untereinander zerstritten: Zeloten, Essener, Galiläer, Judäer. Jede Gruppierung hielt ihre Glaubensrichtung für die allein selig machende und rief Jesus als ihren Erlöser aus.
»Sie glauben an mich«, vertraute Jesus Magdalena an, »aber schuld sind nicht meine Worte, sondern meine Kunststücke, die sie Wunder nennen und die sie für die geplante Rebellion nutzen wollen. Dabei sollten sie mittlerweile wissen, dass ein Umsturz nur gelingt, wenn er von dem unbedingten Willen getragen ist, eine bessere Welt zu gestalten. Ich will kein Gesetz durch andere Gesetze ersetzen. Es ist weder richtig noch falsch, den Regeln unserer Väter zu folgen oder sie zu kritisieren. Es reicht schon aus, wenn man seine Meinung niemandem aufzwingt.«
»Sie brauchen einen Führer.«
»Wenn ein Volk nach einem Führer ruft, verzichtet es auf die Freiheit. Die Menschen sind vergänglich. Ich bin vergänglich. Nur das, woran ich glaube, bleibt. Die Gesetze ändern sich mit der Zeit – aber die Gerechtigkeit hat Bestand.«
»Das, was du da sagst, ist ketzerisch«, unterbrach Savonarola die Erzählung. »Die Ebioniten sind dafür verurteilt worden.«
»Ich kenne sie nicht, deine Ebioniten, und ich bin nur ein Jünger ohne Meister«, antwortete Gua Li. »Und macht denjenigen, den Ihr Ketzer nennt, nicht aus, dass er sich die Freiheit nimmt, seine eigenen Gedanken zu denken und seine eigenen Entscheidungen zu fällen? Doch ich möchte Euch nicht beleidigen. Wenn Ihr es wünscht, werde ich sofort einhalten und meine Erzählung abbrechen.«
»Fahre fort. Aus Liebe zu Gott muss man als Geistlicher auch die verwerflichsten Sünden
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