Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Die älteren blieben nicht einmal an der Wiege stehen – sie erkannten bei einem Säugling auf Anhieb die Zeichen des nahenden Todes. Savonarola betete für seine Seele.
Osman suchte den Kontakt zu Ferruccio, der das Kind nur zweimal am Tag sehen durfte und Leonora nur einmal, jeweils abends. Die beiden Männer hatten sich nie wirklich gemocht: Keiner war je in die Seele des anderen vorgedrungen, außer um zu entdecken, was den anderen mit Gua Li verband. Beide fühlten sich vor Gua Li als Verlierer, wenn auch aus verschiedenen Gründen, und beide hatten die Krankheit der Eifersucht zu spüren bekommen. Sowohl Osman als auch Ferruccio beneideten den anderen um dessen Nähe zu Gua Lis Seele, obwohl sie ihre Rollen nicht ändern konnten.
Am Morgen des Weihnachtstages machte Osman im Kreuzgang mühsam den ersten Schritt auf Ferruccio zu. Die Kälte setzte seinem verkrüppelten Bein zu, und Ferruccio ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Doch Osman reichte ihm nicht seine Hand, wie Ferruccio erwartet hatte, sondern legte ein kleines silbernes Objekt in seine Rechte.
»Nimm die Hand Fatimas, die Tochter des Propheten, geheiligt sei Sein Name, und lege sie in das Bettchen deines Sohnes. Sie wird ihn gegen Dämonen und andere böse Geister beschützen. Das Auge, das du auf der Hand Fatimas siehst, ist das Auge Gottes, das nicht zwischen uns unterscheidet und das sein ganzes Leben lang über ihn wachen wird.«
»Das werde ich tun, Osman, hab Dank.«
»Kennst du Fatimas Geschichte? Als sie ihren Mann Ali zurückkommen sah, zusammen mit einer schönen jungen Konkubine, war sie so verzweifelt und verwirrt, dass sie aus Versehen ihre Hand in kochende Hammelbrühe hielt. Allah sah es, verstand – und Fatima verbrühte sich nicht. Sie hatte keine Schuld, doch Ali wurde von der Gruppe, dessen Mitglied er war, ermordet.«
»Ich bin nicht Ali«, antwortete Ferruccio.
»Und ich bin kein Charidschite mehr. Salam aleikum , Ferruccio.«
»Friede sei mit dir, Osman.«
In der Ruhe des Dormitoriums verweilte Gua Li oft an Leonoras Bett. Heimlich gab sie ihr einen Tee aus Mohnsamen, damit sich die Wöchnerin entspannen und mehr Milch bilden konnte. Das Kind hingegen hatte ab dem dritten Tag keine Krämpfe mehr, und die faltigen Beinchen wurden kräftiger. Auch die schwarzen Haare auf seinem Rücken fielen aus, die ihn wie ein Äffchen hatten aussehen lassen.
Leonora hatte Gua Li sofort vertraut, und so war Gua Li auch die Einzige, die das Kind auf den Arm nehmen durfte, ohne dass Leonora Angst vor einem Missgeschick hatte oder allzu sehr litt, wenn es nicht in ihrer Nähe war. Sogar in der kurzen Zeit, in der Ferruccio sie zwischen all den Frauen besuchen durfte, fürchtete sie seine Unbeholfenheit. Auch das Kind schien sich in Gua Lis Armen am wohlsten zu fühlen. Wenn es weinte, beruhigte es der Klang ihrer Stimme.
»Was erzählst du ihm?«, fragte Leonora sie einmal. »Er scheint zu verstehen, was du ihm sagst.«
»Mein Meister sagte mir, dass Neugeborene sich an ihre vorherigen Leben erinnern, dass diese Erinnerung mit der Zeit jedoch verblasst. Sie verstehen alles.« Gua Li lächelte. »Viel mehr als wir. Und so erzähle ich ihm von einem guten und gerechten Mann, der die Liebe und das Wissen verstand und beides lehrte.«
»Dann erzähle auch mir von ihm, wenn du möchtest. Das, was einer reinen Seele guttut, kann auch allen anderen Freude bereiten.«
Der Monat Nisan war angebrochen, und aus der Erde stieg die erste heiße Luft empor. Ein Schwarm Kraniche befand sich auf dem Weg nach Anatolien. Jesus verfolgte ihren Flug, bis sie am Horizont verschwanden. Maria Magdalena erhob sich und warf ein Steinchen in den Wasserstrudel, an dem der Fluss Jordan in die ruhigen Wasser des Sees floss.
»Wenn du nicht zurückgekommen wärst, würdest du dich jetzt nicht in Gefahr befinden.«
»Das war mein Karma. Ich hatte alles verloren und musste meine Wurzeln wiederfinden.«
»Ich hoffte auf eine andere Antwort. Doch du hast recht – seinem Schicksal kann man nicht entfliehen. Genauso wie es mein Schicksal war, dich zu treffen.«
Jesus nahm ihre Hand und legte sie an seine Wange.
»Du hast die Leere meines Herzens gefüllt und mir neue Hoffnung gegeben, die der Samen des Lebens ist.«
»Ich habe Angst, dass sie dich umbringen und dass du mich verlassen wirst.«
»Ong Pa sagte einmal, dass der Tod nichts anderes sei als die Transformation in eine andere Form des Lebens.«
»Ja, ich verstehe.« Sanft nahm Maria Magdalena
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