Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
ihre Hand von seiner Wange. »Doch das ist nicht genug für mich. Ich will deine Worte, nicht die eines anderen.«
»Möchtest du mit mir gehen?«
Das war es nicht, was sie hatte hören wollen, und sie antwortete so schnell und so scharf, dass sie ihre Worte bereits im nächsten Moment bereute.
»Und wohin soll ich mitkommen? Zu den Mönchen? In deine Berge? Wozu soll das gut sein? Außerdem ist Yuehan erwachsen, er braucht keine Mutter mehr. Doch wenn ich dein Leben retten könnte, indem ich meines für deines gäbe, dann würde ich es tun. Du musst leben, denn du hast noch viele Samen auszusäen.« Maria Magdalena wandte ihren Blick von ihm ab. »Schau! Noch ein Schwarm Kraniche. Zähle sie und dann sag mir, warum sie immer in gerader Zahl unterwegs sind? Nun, weißt du es?«
»Nein, sag es mir.«
»Weil sie immer paarweise fliegen. Sie bleiben ihrem Partner ein Leben lang treu und brüten stets am selben Platz. Wenn einer der beiden stirbt, dann bleibt der andere und fliegt nicht mehr gen Süden.«
Jesus antwortete ihr nicht.
Langsam hob Leonora ihre Hand, und Gua Li hielt ein.
»Diese Maria, von der du erzählst, ist nicht seine Mutter, oder?«
»Nein, das ist Maria aus Magdala. Die Frau, die Jesus liebte.«
»Ich kenne diese Geschichte. Graf von Mirandola erzählte sie mir vor vielen Jahren und verpflichtete mich, sie geheim zu halten. Daran habe ich mich auch immer gehalten. Und ich bin mir sicher: Hätte ich in der Öffentlichkeit auch nur eine Andeutung gemacht, dass Jesus eine Liebste hatte, wäre ich als Hexe im Kerker gelandet. Der Graf erzählte mir, dass es noch viele unbekannte Geschichten über das Leben von Jesus gäbe, alle mit einem Quäntchen Wahrheit. Mirandola sagte, dass er erst die Wahrheit zu erahnen begonnen habe, als er auf die alten Schriften stieß. Seiner Meinung nach war es in der Tat unvorstellbar, dass ein Prophet wie Jesus der Menschheit kein Zeichen hinterlassen wollte.«
»Hast du ihn kennengelernt?«
»Wie der Zufall es wollte, habe einmal ich ihm geholfen und einmal er mir. Dank ihm habe ich Ferruccio kennengelernt, doch das ist eine andere Geschichte.«
»Und dank ihm habe ich dich kennengelernt«, sagte Gua Li lächelnd. »Doch auch das ist eine andere Geschichte.«
»Wenn es mir besser geht, dann werden wir über alles sprechen. Wir scheinen vieles gemeinsam zu haben, du und ich. Doch nun bitte ich dich fortzufahren.«
Gua Li schaute auf den Kleinen, der schlafend neben ihr lag, und streichelte sein Bäuchlein. Ja, sie würden miteinander reden, doch es gab ein Geheimnis, ein einziges, das immer zwischen ihnen stehen würde. Ein Geheimnis, das in ihren Träumen nur Ada Ta kannte, der sich darüber zu freuen schien.
Sie hatten keine Zeit mehr, um weiter darüber zu reden. Jesu Brüder erschienen, mit ein paar der engsten Freunde. Alle waren bewaffnet. Nachdem eine Flucht nicht in Betracht kam, war man sich einig, dass es – als Zeichen des Respekts und um die römischen Ketten zu umgehen – am besten gewesen wäre, dem Sanhedrin zuvorzukommen, und so machten sie sich auf den Weg nach Jerusalem. Nach zwei Tagen Fußmarsch hielten sie an der väterlichen Grabstätte in Sichem an, und alle seine Söhne legten einen Stein auf sein Grab, denn er war ein rechtschaffener Mann gewesen.
Als sie am Morgen des fünften Tages auf den Ölberg stiegen, blendete sie die mächtige Tempelmauer, auf der sich wie ein Monolith der Turm des Allerheiligsten, in dem die Bundeslade aufbewahrt wurde, gen Himmel erhob. Abends aßen sie alle gemeinsam in einem Gasthaus. Jesus wollte Yuehan auf der einen und Maria Magdalena auf der anderen Seite neben sich haben; dann bat er den weinenden Judas zu gehen und den Mitgliedern des Sanhedrins Nachricht zu überbringen, dass er sie erwarte.
47
Im neuen Jahr 1498, in Rom und Florenz
Als Könige mussten sich die Borgias auch dementsprechend verhalten; und das bedeutete, dass sie die Fürsten gegeneinander ausspielten. So hatte Alexander VI. die Orsini und die Colonna zu einer bösen Schlacht in Montecello getrieben und die Kirche des heiligen Vincenzo die Zeche dafür zahlen lassen – sie war im Kampfgetümmel vollkommen zerstört worden. Das Pontifikat war überaus erfreut über die Schlacht, denn sie schwächte beide Fraktionen. An der französischen Front steckte König Karl VIII. immer noch in großen finanziellen Schwierigkeiten und schaffte es nicht, ein Heer aufzustellen. Seine Schulden bei den Medici konnte er auch nicht begleichen.
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