Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
armen Sohnes, der mir eines Tages – so Caesar will – auf den Thron folgen wird. Und ob der vielen Tränen, die seine Mutter vergoss, hat sie gar ein Auge verloren. Wenn dieser Jesus wirklich Wunder vollbringen könnte, dann wäre das für meine arme Familie die Rettung, verstehst du?«
»Ich bin mir sicher, wenn er es könnte, dann würde Jesus dir helfen, nicht wahr, Galiläer?«
»Ich glaube, dass du aufrichtig bist – obwohl du Macht hast«, antwortete Jesus. »Deshalb sollst du die Wahrheit erfahren. Und sollte ich dadurch mich und meine Familie retten können, so wäre ich glücklich. Also wisse: Die Ereignisse, die für Menschen Wunder sind, sind es nur in ihren Augen, nicht in meinen. In dem Land, aus dem ich zurückgekommen bin, haben mir die Mönche beigebracht, dass die Energie, die in uns ist, eine außergewöhnliche Wirkung auf Menschen und Dinge haben kann. Man muss üben und viel Geduld aufbringen, dann kann man das wirken, was du als Wunder bezeichnest. Du könntest es auch.«
»Ich auch?«
»Schweig, Herodes, und lass diesen Mann ausreden.«
»Als ich hierher zurückkehrte, fand ich ein leidendes und verletztes Volk ohne Hoffnung vor. Ich habe mit den Menschen über Freiheit, Wahrheit, Rechtschaffenheit und Liebe gesprochen – über das, woran ich glaube. Und ich war erstaunt, dass mir diese einfachen Menschen zuhörten. Du glaubst, dass du einen Palast und wertvolle Insignien brauchst, um deine Macht zu demonstrieren. In Wirklichkeit würdest du diese Majestät jedoch auch ausstrahlen, wenn du sie nicht hättest. So war es auch bei mir. Ich habe nie behauptet, ein Gott zu sein, noch dass diese Wunder von einer göttlichen Macht kämen. Die Menschen waren blind und taub für diese Wahrheit, die nicht in ihr Konzept passte. Alles, was ich getan habe, war, ihnen die Augen und Ohren zu öffnen. Aber ich habe auch gesagt, dass es keine Gerechtigkeit im Himmel gäbe, solange sie nicht auch auf Erden existiere.«
»Rom hat die Gerechtigkeit in die ganze Welt getragen – wenn auch mit Waffen.«
»Das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht an Waffen glaube. Es gibt keinen Gott – weder im Himmel noch auf Erden –, in dessen Namen es gerechtfertigt wäre, zu töten oder zu quälen oder anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Ich habe jedem, der mir zuhören wollte, gesagt, dass ich nicht von ihm verlange, dass er meine Ansichten teile. Vielmehr sollen sich die Menschen, die mir zuhören, ihrer Freiheit bewusst sein. Der Freiheit, frei wählen zu können. Damit ist die Entscheidung, den Gesetzen unserer Väter zu folgen, genauso falsch oder richtig wie die Entscheidung, sie zu kritisieren. Es reicht, wenn das eigene Gewissen uns lenkt. Ich habe niemanden gebeten, mir zu folgen. Jeder Mensch muss sich selbst folgen: dem Guten, das er in sich fühlt, seinem Gewissen und der Gerechtigkeit. Wem er nicht zu folgen braucht, sind die Gesetze.«
Jesus seufzte, und Herodes holte Luft, um etwas zu sagen, doch Pilatus gebot ihm mit einer Armbewegung Einhalt.
»Du bist weitaus gefährlicher, als es mir beschrieben wurde, Galiläer«, sagte der Statthalter mit scharfem Tonfall. »Doch das heißt deswegen noch nicht, dass du dich eines Verbrechens schuldig gemacht hast. Unsere Gesetze sind niedergeschrieben, und niemand, nicht einmal der Kaiser, kann sich über sie erheben. Und wenn nicht geschrieben steht, dass diese oder jene Tat ein Verbrechen sei, dann kann auch niemand dafür angeklagt und verurteilt werden. Ich habe dich, wie es mir meine Pflicht auferlegt, kontrollieren und beobachten lassen. Das Volk liebt dich – ohne dass du es je zu einem Umsturz aufgestachelt hättest. Und im Gegensatz zu anderen hast du die Menschen nie aufgerufen, die Waffen gegen Rom zu erheben. Manchmal zwingt die Politik uns, in diesen Fällen ein Auge zuzudrücken.«
Er drehte sich um und schaute zu Herodes, der wie versteinert dastand.
An Jesus gewandt fuhr Pontius Pilatus fort: »Daher bist du für Rom nicht schuldig. Weil wir denjenigen Völkern, die wir unterworfen haben, aber weiterhin gestatten, ihren Gesetzen zu folgen – wenigstens solange sie nicht im Widerspruch zu den unsrigen stehen –, bleibt dem Sanhedrin die letzte Entscheidung über dich vorbehalten. Der Rat beschuldigt dich, den Schabbat entweiht zu haben, was mir als Römer vollkommen gleichgültig ist, was ich in meiner Funktion als Statthalter andererseits jedoch nicht ignorieren kann. Ich muss dich zu ihnen schicken, außer …«
Pilatus
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