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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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nicht, ich bin es. Genau wie du und alle Anwesenden und die Männer vor den Toren des Tempels. Wir sind alle die Kinder Gottes.«
    »Habt ihr das gehört?«, schrie Kaiphas. »Er hat Gott gelästert! Was brauchen wir noch weiter zu hören? Gotteslästerung wird mit der Steinigung geahndet.«
    »Ich habe eine Frage.«
    Die Stimme Josefs von Arimatäa erhob sich über die Anwesenden. Augenblicklich wurde es still.
    »Die Anklage muss genauer formuliert sein, Kaiphas. Du hast ihn ›Aufrührer des Volkes‹ genannt. Doch wenn du es könntest – wärst du dann nicht der Erste, der unser Volk gegen das römische Joch aufhetzte? Für die Römer wärst du dann ein gefährlicher Unruhestifter, wir aber würden dich einen Helden nennen. Und ansonsten habe ich keine Gotteslästerungen gehört, die die Gesetze unserer Väter beleidigen sollten.«
    Nach Zustimmung heischend schaute sich Kaiphas um, doch die Autorität Josefs und seine Argumente hatten schon viele Mitglieder des Rates dazu gebracht, lebhaft über diese Bemerkung zu disputieren.
    »Frag ihn nach dem Schabbat«, ertönte eine Stimme von der Galerie. Alle schauten nach oben – der Sprecher war jedoch bereits verschwunden; man hörte nur noch langsame, schwerfällige Schritte, die sich entfernten. Von einem Diener gestützt kam Hannas mühsam die Treppe hinuntergestiegen. Sein Körper war zwar durch das Gewicht der Jahre geschwächt, sein Geist strahlte jedoch nach wie vor Scharfsinn und Autorität aus. Er starrte Kaiphas mit den Augen einer alten Schildkröte an.
    »Frag ihn nach dem Schabbat«, wiederholte er. »Wenn sich ein römischer Karren am Schabbat überschlüge, würde er dem Händler helfen, seine Ware zu bergen?«
    Hannas ging zu den anderen Sanhedrin-Mitgliedern hinüber, die sich sogleich im Halbkreis um ihn scharten.
    »Du hast gehört, was der edle Hannas gesagt hat. Antworte ihm.«
    Jesus senkte den Blick. »Einem anderen Menschen zu helfen ist niemals eine Sünde, auch nicht am Schabbat.«
    Kaiphas fasste sich an seine Tunika und riss die Bauchbinde ab, die um seine Hüften geschlungen war.
    »Jetzt aber« – er zeigte mit dem Finger auf Josef von Arimatäa, »jetzt hat er wirklich Gott gelästert!«
    »Und wer war sein Verteidiger?«, antwortete dieser und erwiderte Kaiphas’ Geste. »Das Gesetz schreibt vor, dass ein Angeklagter sich verteidigen dürfe, und du hast es ihm nicht zugestanden!«
    Josef sah sich Zustimmung heischend um, doch viele der Sanhedrin-Mitglieder schüttelten den Kopf. Daher wunderte er sich umso mehr, dass sich zu seiner Verteidigung ausgerechnet Hannas erhob, der wie ein Blitz in die Diskussion eingeschlagen hatte und nun der Gewinner zu sein schien.
    »Josef hat recht«, sagte der Alte ernst. »Und auch wenn die Schuld des Angeklagten bewiesen ist, so hat er doch wenigstens das Recht, Einspruch zu erheben. Ich schlage vor, dass der Sanhedrin, nachdem er geurteilt hat, auch noch den Statthalter um seine Einschätzung bitten soll. Im Augenblick ist auch unser König bei ihm zu Gast. Die Autorität dieser großen Männer ist die beste Gewähr für ein gerechtes Verfahren.«
    Josef sagte kein Wort. Er blickte kurz in Jesu Augen, las jedoch nur unendliche Resignation darin. Wortlos ging er mit Gamaliel davon, während die anderen Mitglieder des Sanhedrins ihre Stimmen abgaben.
    Die Nachricht der Verhaftung des Galiläers hatte sich wie ein Lauffeuer in ganz Jerusalem verbreitet. In der Nacht stiegen Hunderte und schließlich Tausende auf den Tempelhügel. Als die Wachen kurz nach Sonnenaufgang die Tore öffneten, fanden sie eine gewaltige beunruhigte Menschenmenge vor. Als der in Ketten gelegte Galiläer von einer Gruppe Soldaten vorgeführt wurde, kam Bewegung in die Menschen. Ihre Rufe wurden lauter, die Stimmung heizte sich auf, und schon flogen die ersten Steine und sausten die Knüppel. Um weitere Unruhen zu verhindern, wurden die Stadttore umgehend geschlossen und eine ganze Kohorte römischer Legionäre am Wegrand aufgestellt, bevor Jesus in den Tempel der Antonia-Burg gebracht werden konnte. Dort erwarteten ihn der Statthalter Pontius Pilatus und König Herodes Antipas.
    Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die Kompanie mit Jesus in ihrer Mitte aus der Vorhalle hinaustrat. Lautes Stimmengewirr schlug ihnen entgegen; die Menge war aufgebracht, und die römischen Legionäre mussten von ihren Peitschen Gebrauch machen, um die Menschen in Schach zu halten.
    »Hier ist er nun, endlich!«, rief Herodes aus. »Ich

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