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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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wunderte sich, dass Ferruccio heute Abend nicht erschienen war, und bekam Angst, zwang sich jedoch, sich dieser Angst nicht hinzugeben. Die Nonne sprach so viele Verbote aus – wer weiß, was sie Ferruccio heute erzählt hatte. Morgen würden sie darüber lachen.
    Als sie die Mahlzeit miteinander geteilt hatten, gab Leonora dem Kleinen die Brust. Während Osman ihnen den Rücken zuwandte, scherzte Gua Li über Leonoras prall gefüllte Brüste, die das Baby im Übermaß nährten. Wenn es bei ihr so weit wäre, wünschte sich Gua Li, dass sie genauso viel Milch hätte. Doch sie durfte sich diesen Gedanken nicht hingeben – sie musste sich vielmehr sammeln, denn dieser Teil der Geschichte war der schlimmste und erzeugte eine derartige Wut in ihr, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht zu schreien. Sie konnte einfach nicht unparteiisch bleiben beim Erzählen.

48

    »Kaiphas, es ist der im weißen Gewand. Das ist Jesus, der Galiläer.«
    Der Hohepriester schaute ihn beleidigt an und biss sich auf die Lippen.
    »Ich weiß selbst, wer der Schuldige ist«, antwortete er unwirsch. »Selbstverständlich ist es der in Ketten.«
    Der Schreiber antwortete nicht und bedeutete dem römischen Offizier freundlich, den Gefangenen näher kommen zu lassen. Der Statthalter hatte Anweisung gegeben, dass kein Ungläubiger den Tempel betreten dürfe. Dieses Verbot erstreckte sich auf alle Nicht-Juden, aber auch auf Waffenträger, Kranke oder diejenigen, die gerade einen Toten gesehen und sich noch nicht gereinigt hatten. Verboten war es aber auch Krüppeln und Gelähmten und jedem, der eine so offensichtliche Behinderung hatte, dass sie die Vollkommenheit der Schöpfung vor den Augen des Herrn beleidigen würde. Und Josef Kaiphas hielt sich ohne Ausnahme an die Regeln. Die Gesetze waren alles – ohne sie würden Zerfall und Chaos Einzug halten –, und auch wenn sie ungerecht waren, so mussten sie doch respektiert werden.
    Was Jesus betraf, so war seine Schuld in Kaiphas’ Augen offensichtlich: Im Namen einer höheren Gerechtigkeit hetzte er das Volk gegen die Gesetze Gottes auf. Schon als Knabe sei dieser Mann gefährlich gewesen, hatte Hannas sich erinnert. Das Böse sei in ihm, denn er habe nicht nur Dinge überlebt, an denen Tausende gescheitert wären, nein, das Böse habe ihm sogar dazu verholfen zurückzukehren! Wie Satan, der Hiob all seinen Besitz, sein Weib und die Söhne nahm. Und das wollte auch Jesus: dem Volk seinen Besitz aberkennen – aber nicht, um seinen Glauben auf die Probe zu stellen. Nein, er wollte Gott sein auserwähltes Volk wegnehmen und an seiner statt König werden, um seinen Platz einzunehmen!
    »Bringt den Gefangenen herbei!«, schrie er.
    Während die Schreiber den Gefangenen in Empfang nahmen, drehte sich Kaiphas, von seinem eigenen schrillen Tonfall unangenehm berührt, um und ging zum Bogengang, wo er den Gefangenen befragen wollte. Jesus war in Ketten gelegt und kam doch furchtlos auf ihn zu. Der Hohepriester machte einen Schritt zurück und bemühte sich, wie sein Schwiegervater aufzutreten, der ihn genau in diesem Moment sicher heimlich beobachtete.
    » So …« Sehr zu seinem Ärger musste Kaiphas sich räuspern, »… du bist also der König der Judäer.«
    »Das sagst du, nicht ich«, antwortete Jesus heiter. »Ich bin nur ein einfacher Mann.«
    Aus den Reihen des Sanhedrins drang ein missbilligendes Murmeln, doch Kaiphas war sich nicht sicher, ob es ihm oder den Worten des Galiläers galt.
    »Deine Feinde sagen, du seiest ein Aufrührer. Und dass du dich zum Messias der Heiligen Schriften ausgerufen hast und dich für den Sohn Gottes hältst!«
    »Sie sagen auch, dass dem Sanhedrin ein guter und gerechter Mann vorstehe.«
    Diesmal lächelten einige Mitglieder des Sanhedrins, unter ihnen auch Josef von Arimatäa. Gamaliel, der neben ihm saß, wandte sich flüsternd an ihn.
    »Das ist keine gute Taktik. Kaiphas kann sehr nachtragend sein.«
    »Sie haben ihn schon verurteilt, und das weiß er auch.«
    »Seine Anhänger werden versuchen, ihn zu befreien.«
    »Das glaube ich nicht, denn er weiß nur zu gut, dass sich der Sanhedrin an seiner Familie rächen würde, falls er entkäme. Und das wird er nicht zulassen. Er wird die ganze Verantwortung übernehmen und sterben.«
    Gamaliel kreuzte die Arme und schaute erneut zu Kaiphas und Jesus – ein Jäger mit Lanze und ein Löwe, der sich bewusst war, in Ketten zu liegen.
    »Dann leugnest du also, der Sohn Gottes zu sein?«
    »Ich leugne es

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