Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
strich sich über seinen Bart, und Jesus schaute ihn verständnislos an.
»Nur Juden müssen sich dem Sanhedrin unterwerfen. Wenn du willst, mache ich dich zu einem römischen Bürger – dann würdest du der jüdischen Gerichtsbarkeit nicht mehr unterliegen.«
Herodes biss sich vor Anspannung auf die Lippen, bis sie bluteten. Als er den süßlichen Geschmack seiner Nervosität verspürte, ging er von dannen. Nun waren sie allein: Jesus und Pilatus. Und das Unvorstellbare geschah: Mit gesenktem Blick schüttelte Jesus den Kopf.
»Es gibt eine Regel, die auf keiner Tafel geschrieben steht, die aber in meinem Geist und in meinem Herz eingemeißelt ist: Betrüge niemals denjenigen, den du liebst, und erst recht nicht denjenigen, der dir seine Seele schenkte. Ich danke dir, Pilatus, aber ich kann nicht – nicht einmal, wenn ich auch für meine Familie um die römische Staatsbürgerschaft bitten könnte.«
»Du weißt, was deine Weigerung für dich bedeutet?«
»Ja, ich weiß, und ich bin bereit dazu.«
»Dann mögen die Götter mit dir sein, Galiläer.«
»Das werden sie.« Jesus lächelte. »Sie sind in mir, seit dem Anbeginn der Welt, und mein Leben ist der einzige Grund für ihre Existenz.«
Es war der elfte Tag im Monat Nissan, kurz vor dem Pessach-Fest. Gott hatte seinem Volk geholfen, aus der ägyptischen Gefangenschaft auszubrechen. Gleichzeitig hatte er seinen Engel jedoch geschickt, um den Erstgeborenen einer jeden ägyptischen Familie zu töten. Sein Gott war ein grausamer Gott; ein Mörder, der Tausende unschuldige Kinder ermorden ließ. Ein Gott des Schreckens und des Todes. Und derselbe Gott teilte ihm nun durch Kaiphas mit, dass er an den Pranger gestellt und dann ans Kreuz genagelt werden würde. Eine jüdische Verurteilung mit römischer Bestrafung. Der Sanhedrin würde die Schuld den anderen geben, den Römern, und sich selbst keiner Schuld bewusst sein. Wie die Brahmanen, die mit der einen Hand das Feuer der heiligen Scheiterhaufen entzündeten und mit der anderen die Frauen bei lebendigem Leibe hineinstießen – nur weil ein Gott es scheinbar so verlangte. In Wirklichkeit ging es nicht um einen Gott, sondern um die Festigung ihrer Macht durch Schrecken und Terror. Nun konnte Jesus nur noch an Ong Pa und seine Lehren glauben.
»So wie du an die Worte Ada Tas glaubst, meine Schwester.«
Gua Li kannte die Geschichte, und sie war darauf vorbereitet gewesen, sie zu erzählen. Was sie jedoch nicht kalkuliert hatte, war das Fehlen ihres Vaters, ihres Meisters. Sie lehnte sich auf das Bett und ließ sich von Leonora tröstend über den Kopf streicheln.
49
Florenz, ab dem 15. Februar 1498
»Setz dich, Ferruccio.«
Die Vorladung hatte ihn überrascht – genauso wie die scheinbare Gleichgültigkeit Savonarolas angesichts der Geburt seines Sohnes. Seiner Meinung nach hätte er sich wenigstens freuen können, dass eine neue Kreatur Gottes auf die Welt gekommen war.
Als er nun so vor dem Mönch saß, schienen Jahre und nicht Wochen vergangen zu sein, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Savonarolas eingefallene, hagere Wangen, die an einen Totenschädel erinnerten; der immer deutlicher hervortretende Überbiss und die Wässrigkeit seiner Pupillen waren typische Zeichen der Vergreisung. Seine rechte Hand zitterte, als er Ferruccio ein zusammengerolltes Pergament überreichte.
»Es ist von der hochehrwürdigen Obersten Bruderschaft der Barmherzigkeit.«
Auch seine Stimme war alt geworden – sie war nicht mehr jenes klare, gewaltige Organ, das einst von der Kanzel zu den Gewölben emporgestiegen war und sich wie Blitz und Donner in das Bewusstsein der Zuhörer eingebrannt hatte. Jetzt klang sie heiser und schien aus dem Magen, statt aus dem Hals zu kommen.
»In ihrer unendlichen Güte bitten sie mich, mich auf das wohlverdiente Altenteil zu begeben. Ich werde aber erst ruhen, wenn ich tot bin. Sie laden mich ein, ihre Mitbrüder in Volterra zu besuchen, sie bräuchten tröstende Worte für die vielen Toten der letzten Hungersnot. Ich aber« – einen Augenblick strahlten seine Augen wie eh und je – »will zu den Lebenden sprechen! Das verfaulende Fleisch überlasse ich den Würmern …«
»Vater, dann geht nicht.«
»Lies dies und dies und dies.«
Savonarola räusperte sich und schob Ferruccio eine Reihe Briefe hinüber, einige gerollt, andere gefaltet. Ferruccio schaute auf die Absender: Die Zunft der Wollhändler, der Geldwechsler, der Richter und Notare hatte sich an Savonarola
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