Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
beschuldigte ihn Bruder Mariano jeden denkbaren Frevels: des Hochmuts, für den Savonarola ja überaus bekannt war, und des Ketzertums. Er sei nicht umsonst exkommuniziert worden, wetterte Mariano, schließlich sei er ein abtrünniger Ketzer und falscher Prophet. Ja, mehr noch, er sei außerdem ein Wucherer und ein Sodomit – das habe er Seiner Heiligkeit, dem Papst, selbst gestanden. Bruder Marianos feurige Reden führten ihn durch zahllose Kirchenschiffe – von Santo Michele all’Orto und Santo Piero in Schiaraggio bis zu der neu erbauten, imposanten Santa-Croce-Kirche, wo sich Tausende Bürger drängten, um ihm zuzuhören. Die Piagnoni aber, von denen immer weniger in den Gassen unterwegs waren, hielten sich wohlweislich fern und sannen auf Rache. Wenigstens so lange, bis Bruder Francesco di Puglia, der sich mit Bruder Mariano bei den Predigten in Santa Croce abwechselte, sich erdreistete, den Dominikaner offen zu einer Feuerprobe herauszufordern.
»Ich bin mir sicher, dass ich dabei sterben werde«, rief er und hob die gefalteten Hände gen Himmel, »aber die christliche Barmherzigkeit fordert mich dazu auf, mein Leben zu geben, wenn dieses Opfer die Kirche von einem Ketzer befreit, der viele Seelen in das ewige Verderben führte und noch führen wird.«
Am darauffolgenden Tag kam diese Provokation Savonarola zu Ohren, doch es war zu spät, um die aufgebrachten Seelen zu beruhigen. Einer der inbrünstigsten Anhänger des Dominikaners, Domenico Buonvicini aus Pescia, hatte, durchdrungen vom göttlichen Geist, in die Menge geschrien, dass Gott – vorausgesetzt, es sei sein Wille – durch klare und wundersame Zeichen bezeugen würde, auf welcher Seite er stünde.
Bruder Francesco wurde überrascht: Das Ordal war eigentlich nur als Provokation gedacht gewesen. Es war eines dieser Werkzeuge, die dem Pergament entsteigen, um die Gedanken des Geistes zu verstärken. Bereits einige Male hatte er den Allmächtigen angefleht, ihn mit einem Blitz hier und jetzt auf der hölzernen Kanzel zu erschlagen, und alle Zuhörer hatten erwartungsvoll nach oben geblickt. Doch diesmal konnte er keinen Rückzieher machen, denn die Gläubigen hatten ihn beim Wort genommen und malten sich bereits genüsslich die Feuerprobe aus.
Schließlich entsandte man aus dem römischen Kapitel einen Franziskanermönch, der Savonarola im Namen des Papstes anwies, den Fehdehandschuh aufzunehmen. Weil der Dominikaner selbst dann noch hartnäckig schwieg, als Buonvicini ihn erneut herausforderte, wurde anstelle Savonarolas ein dritter Gegenkandidat aus Florenz aufgetan: ein gewisser Giuliano Rondinelli – ein einfacher Franziskanermönch, den die Ereignisse einfach überrollten. Der Kanzler des städtischen Archivs hatte mittlerweile aus den alten Regelwerken das exakte Zeremoniell einer Feuerprobe zutage gefördert, und damit nahmen die Dinge ihren unvermeidbaren Lauf: Ein zwei Fuß breiter und achtzig Fuß langer Weg wurde mit glühenden Kohlen bedeckt und der gute Buonvicini entkleidet, da man befürchtete, er würde unter seiner Kutte irgendeine Zauberei verbergen, die ihm helfen würde, die Feuerprobe zu bestehen. Inmitten der johlenden Menge schritt der Dominikaner mit den heiligen Sakramenten in der Hand auf die glühenden Kohlen zu. Das Volk hielt die Luft an. Doch bevor der Mönch den Kohlenweg betreten konnte, intervenierten die Franziskaner – eine geweihte Hostie dürfe nicht verbrannt werden, riefen sie. Daraufhin verlangte Buonvicini, dass sein Gegner, wenn er schon die Hostie abgeben müsse, auch noch sein hölzernes Kreuz abzulegen habe. Im Mob begann es zu rumoren – die neuerliche Verzögerung gefiel dem Volk nicht. Als es dunkelte, ging ein Regenschauer nieder und löschte die glühenden Kohlen. So wurde die Angelegenheit beigelegt. Der enttäuschte Mob zerstreute sich langsam und tat sich in Ermangelung eines Besseren an dem unbewaffneten Francesco Valori gütlich: Der Kapitän der Piagnoni wurde kurzerhand mit Knüppeln totgeschlagen.
In anderen Stadtteilen brachen plötzlich weitere Tumulte aus, die mehrere Menschenleben kosteten: Die Frau des Bäckers starb, weil sie mit ihrem braunen Rock und der Kapuze mit einem Mönch verwechselt wurde. Die Wachmannschaften des Bargello-Palazzos entzweiten sich, da sie entweder dem einen oder dem anderen recht gaben, und an jenem Abend blieben viele Tore der Stadt unbewacht.
Aus einem dieser Tore, am Santo-Niccolo-Wachturm, konnte daher eine Kutsche, die von einem robusten Ross
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