Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Leonora einen Kuss auf die Stirn, setzte sich und schob sich ein Kissen in den Rücken, das Osman Khayr al-Din entwendet hatte.
»Ich habe euch bereits erzählt, wie Jesus auf den Schädelberg geführt und gezwungen wurde, sein eigenes Kreuz zu tragen. Und auch wie Caio Cassius ihn verletzte – nicht um ihn umzubringen, sondern um den Sanhedrin glauben zu machen, er wäre bereits tot, damit sie ihm nicht die Beine zertrümmerten. In dieser Nacht ließ der römische Offizier seine Soldaten Gewürzwein trinken, und eine Gruppe Frauen und Männer holten Jesu Körper. Als er sah, wie sie sich entfernten, leerte Caio Cassius seine Amphore Wein und harrte seines Schicksals. Von nun ab wird die Geschichte freudig und traurig sein, es werden sich unvorhergesehene Ereignisse zutragen, und nicht immer werden das Gute und die Liebe siegen.«
»Wie im wahren Leben«, sagte Ferruccio, der es seit geraumer Zeit vermieden hatte, das Wort an sie zu richten. »Da hält das Schicksal auch immer Überraschungen bereit, für jeden von uns und im Guten wie im Schlechten. Wenn die Kraft in deinen Venen fließt, schickt es dir plötzlich eine Krankheit, und wenn der Sturm dich umzureißen droht, tritt plötzlich Ruhe ein.«
Leonora nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und presste es so sehr, dass sie ihm fast wehtat.
»Und wenn dir dein Weib aus ihrer Gefangenschaft einen Brief schickt und dir zwischen den Zeilen signalisiert, dass sie am Leben ist und du sie suchen sollst? Ja, womöglich sogar, wo du sie finden kannst, wenn du lange und zweimal um die Ecke denkst? Und du liest einfach nur die Worte und merkst gar nicht, dass sie dir auf solche Weise nie schreiben würde? Du fragst dich nicht nach dem Grund? Von wegen Schicksal!«
Leonora seufzte. »Obwohl du alles für mich bist – du bist eben auch nur ein Mensch.«
Ferruccio kniff die Augen zusammen. In seiner Erinnerung erschienen die wenigen Zeilen. Sie hatten ihm nur gesagt, dass seine Frau lebte. Den Rest hatte er nicht gesehen, obwohl, das stimmte, jene Worte im Rückblick wirklich nicht zu ihr passten. Er öffnete den Mund, um sie zu bitten, es ihm zu erklären und zu verzeihen, doch Leonora schüttelte den Kopf und legte ihm einen Finger auf die Lippen, damit Gua Li mit ihrer Geschichte beginnen konnte. Wenn der Libeccio nicht stärker würde oder plötzlich eine venezianische Galeere zwischen den griechischen Inseln auftauchte, dann würden sie am folgenden Tag die Eisenkette erreichen, die das goldene Horn verschloss.
51
Das flackernde Kerzenlicht warf zittrige Schatten an die weißen Kalkwände der Grotte. Aus einem der vielen Taubenschläge drang das gedämpfte Gurren der eng aneinandergedrängten Tiere, die für die Opferrituale gezüchtet wurden. So wie er es verlangt hatte, lag Jesus nun auf dem kühlen Steinboden, bedeckt von einem Leintuch, das nach Aloe und Myrrhe duftete. Mehrere kleine Feuerstellen verströmten den scharfen und beißenden Geruch von Terpentin-Pistazienharz. Seine Mutter hatte sich über ihn gebeugt. Auch ihre anderen Söhne waren bei ihr, während Yuehan mit zusammengeballten Fäusten in einer Ecke stand und mit den Tränen kämpfte. Maria Magdalena stand ihm gegenüber und starrte gebannt auf den regungslosen Körper.
»Es ist so weit«, sagte Judas. »Er müsste bereit sein.«
»Und wenn er nicht wieder aufwacht? Sein Atem ist nicht zu spüren.«
»Er stinkt nicht, Mutter. Wenn er tot wäre, würden wir das riechen; außerdem hätte er eine andere Farbe.«
»Diese ganzen Essenzen könnten uns verwirren …«
Judas kniete sich neben seine Mutter und betrachtete das Gesicht seines Bruders. Kein Zittern, kein Zucken der Augenlider verriet ein Lebenszeichen. Jesus hatte sie gebeten, Vertrauen zu haben, und sie daran erinnert, dass er gelernt hatte, seinen Herzschlag so zu verlangsamen, dass er stehen blieb und dass er damit auch seine Atmung zum Aussetzen bringen konnte. Das sei eine Übung, hatte er erklärt, die den Mönchen sehr vertraut sei und die vor allem nützlich war, wenn man auf Bären traf, denn sie fraßen keine Kadaver. Er hatte ihnen erklärt, wie sich dieser vermeintliche Todeszustand manifestieren würde. Und er hatte ihnen gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen bräuchten: Sie müssten nur einige einfache Anweisungen befolgen, damit er wieder aufwachen und zu Kräften kommen könne. Die Schläge und das verlorene Blut hatten aber Jesu Körper und damit auch seinen Geist geschwächt, und Judas war sich nicht mehr
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