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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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seinem Sohn vom Kreuz abgenommen hatte. Sie hatte das Grüppchen in vollkommener Dunkelheit bis zur Grabstätte geführt und mehr über ihn gewacht als alle anderen. Doch um von Jesu Familie akzeptiert zu werden, hätte sie wenigstens die leibliche Mutter Yuehans sein müssen. So aber war sie eine doppelte Verliererin: Es war ihr nicht gelungen, die Zuneigung von Jesu Familie zu gewinnen, und nun schickte sich der Mann, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, dieser gute, intelligente, schöne und liebevolle Mensch, der für seinen Sohn Vater und Mutter gleichzeitig war – nun schickte sich dieser Mann an, aus ihrem Leben zu verschwinden wie der Morgendunst, der sich in den Sonnenstrahlen auflöst. Er liebte sie, dessen war Maria Magdalena sich sicher, doch nicht genug, um das Vollkommene zu erleben, das er bereits erlebt hatte, mit einer anderen Familie und seinem einzig überlebenden Sohn. Es gibt Männer – und Frauen –, die nur eine einzige Liebe in ihrem Leben haben. Sie lieben bedingungslos und über den Tod hinaus – aber nur ein einziges Mal. Und wenn einer der beiden stirbt, dann folgt ihm der andere. Jesus war solch ein Liebender. Er hatte ihre Hand genommen, gleich nach seiner Auferstehung, und sie freundlich angelächelt. Doch das war es nicht, was Maria wollte. Sie wollte kein Lächeln – sie wollte Leidenschaft; dieses überwältigende Gefühl, das an nichts anderes mehr denken lässt; sie wollte eine Zufriedenheit, die Frieden bringt; eine Zukunft, ohne die es keine Hoffnung gibt. Deshalb zog sie sich zurück.
    Bis zum Tag seiner Abreise suchte Jesus nach Maria. Er fragte überall nach ihr, doch niemand konnte ihm sagen, wo sie war. Ohne seinem Vater etwas davon zu sagen, ging Yuehan zu den öffentlichen Waschhäusern, wartete vor den Tempeln auf die herausströmenden Frauen und suchte in den Tavernen und auf den Märkten, doch niemand kannte sie.
    Was ursprünglich eine heimliche Flucht werden sollte, verwandelte sich in eine richtige Karawane mit Karren und Maultieren im Gefolge. Zu viele seiner Getreuen waren bereit, Jesus überallhin zu folgen. Judas war zufrieden, dass sein Bruder in dieser Menge nicht weiter auffiel. Als er jedoch Caio Cassius auftauchen sah, zückte er sein Messer. Sollte er noch mehr Geld fordern, dann würde er die Klinge zu spüren bekommen. Doch der Römer breitete die Arme aus und zeigte ihm, dass er seine Uniform nicht mehr trug. Der Regen rann ihm über das Gesicht.
    »Jude, ich bin desertiert«, rief er glücklich, »und wenn du deinen Bruder liebst, dann lässt du mich mit ihm gehen. Ich will die letzten Jahre, die mir noch bleiben, in Frieden verbringen und nicht mit Kämpfen. Ich weiß, dass er keine Waffen mag, doch dieser Dolch könnte nützlich sein – obwohl ich hoffe, ihn nur noch zum Schlachten eines Lammes in die Hand nehmen zu müssen. Und sag ihm, dass er sich beeilen soll aufzubrechen, denn nur die Schwerhörigen wissen noch nicht, dass Jesus am Leben ist.«
    Judas steckte sein Messer wieder ein.
    »Und das Geld, das dir die Frau gab?«
    »Auch das wird ihm von Nutzen sein. Ich habe einen Brief von ihr. Er ist versiegelt, und sie bat mich, ihn nur Jesus persönlich auszuhändigen.«
    »Er heißt Īsā. Nenn ihn nicht mehr so.«
    Auf den nassen Straßen würden sie keinen Staub aufwirbeln, und so brach die Karawane schließlich auf. Bis zum See Genezareth würden sie alle gemeinsam gehen; dann würde sich die Familie für immer trennen. Als der Tempel nur noch schemenhaft am Horizont zu erkennen war, reichte Caio Cassius Jesus endlich die Hand.
    »Ich habe das hier für dich, Īsā. Es ist von der Frau, die du kennst.«
    Īsā hielt sich den Brief ganz nah vor die Augen, damit der Regen die Zeilen nicht fortwischen konnte. Seine Lippen wiederholten Wort für Wort.
    Es tut mir sehr leid. Ich weiß, dass es dir wehtun wird, wenn du liest, dass ich dich verlasse. Doch der Schmerz, den ich empfinde, ist größer. Ich kann mir nicht vorstellen, auch nur einen Tag ohne dich zu leben, ich habe nicht den Willen dazu. Du hast mir während unseres Zusammenseins viele Geschenke gemacht. Und hier ist mein letztes für dich: Ich bitte dich, keine Gewissensbisse zu haben. So wie ich auch keine habe. Ich habe unser Miteinander genossen; du bist der sanfteste Mann, den ich je kennengelernt habe. Wie können Männer nicht verstehen, dass jede Frau Sanftheit statt Zwang, Respekt statt Gewalt und Liebe statt Besitzdenken will?
    Du hast aber auch deine Weisheit mit mir

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