Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
zornigen Brief an den Venezianer Marco Boscolo, den Händler seines Vertrauens, verfasst und von ihm die Erstattung des Vorschusses für die Teppiche in Höhe von 400 Florinen verlangt. Er könne gerne selbst in Augenschein nehmen, schrieb er, in welch unsäglichem Zustand die Waren angekommen seien – nur ein Exemplar aus Seide war unversehrt geblieben! Die anderen Teppiche – samt Rattenfamilie – habe er eingelagert; er könne sie jederzeit abholen! Der edle Serristori setzte schwungvoll seine Initialen unter die Missive und brachte mit dem Siegel das Wappen seines Hauses – den Steg mit drei Sternen – auf den roten Siegellack auf.
Was er nicht wusste: Der venezianische Händler Marco Boscolo würde seine Mahnung nie erhalten und ebenso wenig die Florinen zurückerstatten, denn er lag bereits seit Tagen mit einer schweren Eisenkette umwickelt und durchgeschnittener Kehle auf dem Grund des Canal Grande. Die Äschen und Aale, die in den schlammigen Gewässern hausten, hatten sich bereits an seinem Körper gütlich getan.
In den folgenden Tagen vergaß Averardo die Teppiche, die Florinen und den treulosen Händler ohnehin, denn sein Weib erkrankte und starb qualvoll und stöhnend in seinen Armen. Und kaum war sie dahingeschieden, da zeigte seine zweite Tochter ihm eine walnussgroße Schwellung zwischen der Achsel und ihrem gerade sprießenden Brüstchen. Zwei Tage später war auch sie tot – zum Glück hatte sie ihr Bewusstsein nicht wiedererlangt, nachdem ein willfähriger Medicus ihr, um die Schmerzen zu lindern, gegen gute Bezahlung ein Gebräu aus Stechapfel und Teufelskralle verabreicht hatte. Als Nächstes hatte der Sensenmann zwei Infanten geholt, deren Seelen unter unglaublichem Leid zu Gott emporgestiegen waren, und als ob das noch nicht genug wäre, fanden sie nach zweitägiger Suche den knapp zehn Jahre alten Küchenjungen im Stall mit blutigen, leeren Augenhöhlen; die Ratten hatten ihn bereits angefressen. Nach ein paar Tagen hörte die Epidemie auf, denn im Haus waren entweder alle tot oder aus dem vom Teufel besessenen Hause geflohen.
Schließlich irrte nur noch der alte Averardo Serristori allein in den Räumen umher und fragte sich, warum ihn die Krankheit nicht ereilt hatte, damit er das Schicksal seiner geliebten Familie teilen durfte. Er konnte sich einfach nicht erklären, warum er nicht einmal von einem leichten Fieber ergriffen worden war – ganz im Gegenteil, er fühlte sich kerngesund. In seiner Trauer fragte sich der alte Serristori wieder und wieder, welche Sünden sein Weib und seine beiden Töchter begangen haben mochten, um so hart von Gottes Hand bestraft zu werden. Und dann verstand er in seinem Wahn, der üblicherweise dem Schmerz folgt: In Wirklichkeit hatte Gott ihn bestrafen wollen, indem er ihm das Liebste auf Erden nahm. Die Beichte hatte ihn zwar geläutert – doch seine fleischlichen Sünden in der Jugend mussten vor den Augen des Allmächtigen wohl zu schwerwiegend gewesen sein, als dass Gott ihm ganz vergeben konnte. Er hatte Gottes Sohn wohl zu sehr am Kreuz leiden lassen.
Bruder Girolamo hatte recht: Reue reichte nicht aus, man musste sich ganz und gar Jesus Christus hingeben. Nun, da er als Einziger überlebt hatte, würde er sein gesamtes Hab und Gut dem Kloster San Marco vermachen, beschloss der Alte, und lediglich erbitten, seine letzten Tage im Kloster verbringen zu dürfen. Wenigstens konnte er sich mit dem Gedanken trösten, dass er seine geliebten Töchter und sein Weib im Paradies antreffen würde, wenn er ihnen endlich würde folgen dürfen. Der vollständige Ablass, für den er fürwahr einen hohen Preis bezahlt hatte, würde ihm im Himmel den Trost spenden, der ihm auf Erden verwehrt worden war.
Ein letztes Mal noch ging Serristori durch die Räume. Am nächsten Tag würde er den Notar rufen und die Übereignungsurkunde unterzeichnen. Dann ging er in den Stall, aus dem ein unablässiges Miauen drang, denn alle Katzen des Hauses hatten sich dort auf der Suche nach Nahrungsresten versammelt. Sie waren durcheinander, nervös, und seine Hand, die die Öllampe hielt, begann zu zittern, als er sah, dass einige von ihnen um die Körper ihrer Artgenossen strichen. Sie schnupperten an ihnen, stupsten sie herum und begannen, das auslaufende Blut ihrer Gedärme aufzulecken.
»Weg, weg! Geht hinfort, Kreaturen der Hölle! Achtet die Toten!«
Wie mit einem Schwert fuchtelte er mit der Lampe umher, und eine Katze sprang ihm verängstigt zwischen die Füße.
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