Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
hundertsten Mal an seinen Nachbarn.
»Wann endet die Zeremonie?«, erkundigte er sich ungeduldig.
»Exzellenz«, flüsterte ihm Sebastiano Barbarigo geduldig zu, »wir sind erst am Anfang. Der Muezzin des Sultans hat gerade die zehn Verse aus dem Koran deklamiert.«
»Und diese Trommeln, was bedeuten sie? Sie werden doch etwa keine Verurteilten aufhängen, oder? Ich sehe keine Galgen.«
Sebastianos Onkel, der Doge Agostino, hatte ihn gebeten, freundlich zu dem alten, bornierten Mann zu sein, der einer der wenigen gewesen war, welche die gefährliche Position eines Legaten der Republik in Istanbul bekleideten. Die Beziehungen des Sultanats zu Venedig hatten sich in den letzten Jahren verschlechtert. Sultan Bayezid II. war über das Verhalten seines Vorgängers ungehalten, denn seine chiffrierten Depeschen, in denen Komplotte gegen den Sultan geschmiedet wurden, waren regelmäßig abgefangen worden. Deshalb hatte der Herrscher den venezianischen Gesandten vor einiger Zeit ausgewiesen. Um den Handel zu fördern und einen Krieg mit ungewissem Ausgang zu vermeiden, wäre es jedoch von Vorteil für ihn, die guten Beziehungen so weit wie möglich zu erhalten. Die Gebiete um Bulgarien, Thrakien und Mazedonien, welche durch die jüngsten Eroberungen seines Vaters direkt an die christliche Welt grenzten, waren alles andere als sicher.
»Wir befinden uns nicht in Venedig, Eure Exzellenz«, antwortete ihm Barbarigo. »Im Serailpalast wird niemand gehängt. Die Trommeln kündigen nur den Einzug der Tänzer an. Schaut nur, jetzt treten sie ein.«
Ada Ta hörte dem Gespräch der beiden Männer nicht mehr länger zu, sondern richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Einzug der Tänzer. Aus einer Ney, einer langen Hornflöte, ertönte eine weiche Melodie. Grimani schnaubte ungeduldig, und Barbarigo war erneut gezwungen, ihn zu tadeln.
»Verzeiht, Exzellenz, aber es handelt sich hier um eine heilige Zeremonie. Der Klang der Ney symbolisiert den göttlichen Odem, der allen menschlichen Kreaturen ihr Leben einhaucht.«
»Und die da, tanzen die jetzt endlich? Mit dem Umhang?«
Ohne die Blicke von den Tänzern zu wenden, wandte sich Ada Ta an den adligen Venezianer.
»Nein, Eure Exzellenz. Der schwarze Umhang steht für die Ignoranz der Materie. Darunter tragen die Tänzer ein weißes Hemd – das einem Leichentuch gleich – das Symbol des Lichtes und des Todes darstellt.«
Grimani sah den Fremden überrascht an und fasste sich ans Gemächt – so wie immer, wenn er zur Messe ging und das Wort Tod ausgesprochen wurde. Barbarigo warf dem unbekannten Gast mit den orientalischen Gesichtszügen einen verschwörerischen Blick zu. Endlich beendete der Musiker sein Spiel, und der Meister, den man an seinem grünen Turban erkennen konnte, breitete seine Arme aus, als wollte er alle Anwesenden umarmen.
»Komm«, rief er und hob seinen Blick gen Himmel. »Wer du auch sein magst, komm! Bist du ein Ungläubiger, ein Götzendiener oder ein Heide? Komm – unser Ort ist kein Ort der Verzweiflung, auch wenn du hundertmal ein Versprechen gebrochen hast, komm nur in unsere Mitte!«
»Und jetzt«, fuhr Ada Ta in seinen Ausführungen fort, »wird er den braunen Filzhut der Tänzer küssen, der den Grabstein symbolisiert.«
Grimani fasste sich erneut in den Schritt und erbleichte. Während der Meister auf einem roten Ziegenfell Platz nahm und mit den Händen auf den grünen Marmorboden klatschte, liefen die Tänzer an die Längsseite des Saales, warfen ihre Umhänge ab und klatschten ebenfalls mit den Händen auf den Boden. Der Tanz begann.
Wie die Planeten um die Sonne, so kreisten die Tänzer wie ein Kreisel auf ihrem linken Fuß herum, ohne ihn vom Boden zu heben. Sie breiteten ihre Arme aus, und die rechte Handfläche zeigte gen Himmel, auf dass die Himmelskräfte durch sie hindurchfahren konnten, um sich dann durch die linke, dem Boden zugewandte Handfläche in die Erde zu entladen. Gott war in ihnen, das spürte man, und durch den wirbelnden Tanz gerieten die Derwische in eine mystische Ekstase. Das rhythmische und unerbittliche Schlagen der Davul, der Trommel aus Ziegenhaut, wurde so lange von der weichen und harmonischen Melodie der Ney versüßt, bis die jüngsten Derwische zu Boden fielen. Als der letzte Tänzer stürzte, erhob sich Bayezid II. und lächelte. Er trug die Farben des Islam: einen bodenlangen grünen, mit Goldfäden durchwebten Kaftan und eine schwarze Soutane, die mit wertvollem Hermelin ummantelt war. Auf dem
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