Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
gekreuzten Beinen darauf und führte ihre Handflächen zusammen. Mit geschlossenen Augen holte sie tief Luft und begann ihre Erzählung vor dem höchsten Würdenträger des Islam.
In Samarkand wurde Sayeds Stand von den Gesandten der mongolischen Stämme belagert. Die Preise für Öl, getrocknete Früchte, Gerste und Sämereien aller Art schossen in die Höhe, und es wechselten zahlreiche Goldstücke, Silberlinge und Edelsteine den Besitzer. Innerhalb weniger Tage war die gesamte Ware ausverkauft, und der indische Kaufmann musste zu seinem Bedauern einige seiner Stammkunden, die zu spät gekommen waren, wieder wegschicken. Da er nichts mehr zu tun hatte, tauschte Sayed ein paar Edelsteine gegen wunderschöne Amulette aus schwarzem Achatstein ein. In die kostbaren Glücksbringer waren stilisierte Dzos, die von beschützenden Augen umrahmt waren, eingraviert.
»Nimm«, sagte er zu Jesus und reichte ihm das wertvollste Amulett mit einundzwanzig Augen, »dies ist ein mächtiger Talisman, der die Vereinigung des Menschen mit dem Geist darstellt. Er wird dir helfen, das zu vollbringen, was du dir im Geiste wünschst.«
Von einem Bön-Mönch hatte Sayed sich außerdem überzeugen lassen, ein fast fünf Spannen langes Horn zu kaufen. Er hatte das Glänzen in Jesu Augen gesehen, als der Verkäufer ihm versicherte, dass er mit diesem Instrument sogar Steine zum Schweben bringen könnte. Sayed kaufte außerdem eine teure Buddha-Statue aus Elfenbein, das Schönste, was er je gesehen hatte. Es stamme von riesigen behaarten Elefanten, die in der Wüste Gobi erfroren wären, berichtete der chinesische Händler.
Sayed und Jesus lachten über dieses Geflunker, aber die Statue war so gut geschnitzt, dass Sayed den schlafenden Elfenbeinbuddha schließlich erwarb.
»Dieser Mann lächelt im Schlaf«, sagte Jesus gedankenvoll. »Das bedeutet, dass er im Reinen mit seiner Seele ist. Du hingegen schneidest im Schlaf Grimassen und beschwerst dich – warum sprichst du nicht mit mir? Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass im Schlaf Freude und Trauer wie junge zügellose Kamelstuten frei umherspringen.«
»Und wenn ich dir sagte, dass diese Kamelstuten glücklicher sind als ich?«
»Das Wort befreit den Geist und die Herzen der Menschen. Es ist der Odem, den ihnen die ewige Mutter einhauchte, damit sie sich von den Tieren unterscheiden mögen.«
»Aber gehörte deine Mutter nicht zu den hebräischen Stämmen, und ist euer Gott nicht grausam?«
Jesus antwortete Sayed nicht. Von diesem Moment an hüllte er sich wieder in Schweigen. Sayed verstand nicht, bedrängte ihn jedoch nicht weiter, da er annahm, dass er den Jungen irgendwie verletzt hatte. Der Marsch nach Dschidda am großen Meer entlang würde viele Wochen dauern. Obwohl es bereits Sommer war, lag auf den Pässen noch Schnee, und eine Lawine riss ein paar Männer und Pferde mit sich. Als sie ihr Nachtlager in Bagram aufschlugen, wurden sie von einer Horde berittener mongolischer Reiter überfallen. All die Jahre zuvor hatte Sayed Schutz bei den Paschtunen gesucht, die während des Sommers das schwarze Gift des blühenden Mohns sammelten, und war den Angriffen so entgangen. Doch dieses Jahr war die Karawane spät dran, und ihre nächtlichen Lagerfeuer, mit denen sie die wilden Tiere fernhielten, hatten dafür die Banditen angelockt.
Als am Berghang die unzähligen kleinen Flämmchen auftauchten, versuchte noch ein Diener, der die Nachtwache übernommen hatte, zu schreien, aber sein Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, die ohne Vorwarnung von einem brennenden Pfeil durchbohrt wurde. Die Erde bebte bereits, noch bevor das Geräusch der trampelnden Hufe ertönte und die Reiterhorde das Lager überrannte. Die Karawanenführer hatten gerade noch Zeit, aufzuspringen und nach ihren Waffen zu greifen. Die ersten Karren fingen Feuer, und die Reiter rissen ihre Pferde herum, um mit gezückten Schwertern erneut anzugreifen. Sayed kannte ihre Taktik und befahl den Grüppchen, sich zu zerstreuen, weil sie den Angreifern so die geringste Angriffsfläche boten. Die beste Verteidigung war, sie zu zwingen, um die Karren herumzureiten. Die Banditen versuchten mit ihren Pferden, die Menschen zu überrennen, aber die Tiere weigerten sich und scheuten. Die Luft war von Pferdewiehern und wütenden Schlachtrufen erfüllt, und eine feine Staubwolke erhob sich. Es folgten erst kleine Steinchen, dann größere, schließlich eiergroße. Sayed und die Seinen sahen sich plötzlich bis zum Gürtel in
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