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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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Mann mit einer Narbe, die das halbe Gesicht samt Auge durchschnitt, hatte einen Dolch gezückt. Ein anderer mit einem großen Buckel zog sein Beil. Leonora und Ferruccio blieben in sicherer Entfernung stehen. Keiner der beiden Männer schien nachgeben zu wollen. Sie standen auf einem Holzsteg, unter dem Abfälle schwammen. Eine Ratte wollte sich gerade an einer toten Taube gütlich tun, fühlte sich aber von den Streitenden gestört und hüpfte in die dreckige Brühe. Der ungewöhnlich heiße Mai verstärkte den unerträglichen Gestank dieser Kloake, und beide Kontrahenten hielten sich angewidert einen dreckigen Stofffetzen vor die Nasen. Die Gasse war eng, und die geduckten Häuser mit ihren hervorstehenden Giebeln verhinderten, dass auch nur ein einziger Sonnenstrahl eindrang. Obwohl es Mittag war, lag die Gasse im Halbdunkel.
    Der Entstellte atmete die beißenden Gerüche von Fett und gekochtem Kohl ein, die den Fensterchen der halb unter der Erde liegenden Küchen entwichen und sich mit der stehenden Schwüle vermischten. Für einen Augenblick schloss er sein gesundes Auge. Der Buckelige spürte, wie ihm Schleim aus seiner Lunge in die Kehle stieg, und spuckte so heftig aus, dass er beinah das Gleichgewicht verlor. Aus einem der oberen Fenster erklang ein Warnruf, dann ergoss sich der Inhalt zweier Nachttöpfe auf die Gasse. Das rettete die Streithähne, weil sie auf ihre Worte keine Taten folgen zu lassen brauchten. Beide sprangen zurück und nutzten die Gelegenheit, ihrer Wege zu gehen. Ferruccio machte dem Buckligen Platz, nahm Leonora am Arm, eilte mit ihr durch die Gasse und bog rechts in Richtung Santa Maria degli Angeli ab. Wie aus dem Nichts erschien nun eine Möwe und stürzte sich auf die tote Taube.
    Ferruccio und Leonora sahen nicht anders als all die anderen Paare aus, die in die kleine Kirche der Frati gaudenti strömten. Sie traten ein, und nach dem Ritus der Waschung im Taufbecken bekreuzigten sie sich mit Weihwasser. Das kleine Kirchenschiff der Santa Maria degli Angeli war bereits voller Menschen, die alle in die Mitte drängten, um möglichst nah an der Kanzel zu sein: Von der hölzernen Brüstung würde bald Girolamo Savonarola – der Geweihte Gottes – sprechen. Seitdem dieser vor einigen Monaten gegen ihr Adelsprivileg gewettert hatte, das Zölibat nicht ablegen zu müssen, hielten die Frati Gaudenti nicht mehr besonders viel von ihm. Weil jedoch alle die Wut des Dominikaners fürchteten und ihn nicht noch mehr verärgern wollten, hatten sie zugestimmt, dass er in ihrer Kirche predigte.
    Das Paar ließ sich nicht von dem Mob mitziehen, sondern wandte sich zum rechten Vestibül, in dem eine imposante Statue des heiligen Markus aus grauem Marmor stand. Er stand über einem geflügelten Löwen, der so groß wie ein Hund war, und schien aus dem Evangelium zu lesen.
    Leonora trug einen weißen Schleier auf dem Haupt und hielt einen Rosenkranz in den Händen, den sie nervös durch die Finger gleiten ließ. Ein Detail der Fresken des Jüngsten Gerichts erregte ihre besondere Aufmerksamkeit: Die zahllosen Seelen der Verdammten brannten in tiefen Erdspalten, während die Auserwählten nur eine kleine Schar waren, die sich mit anmutigen Engeln in den Himmel erhob. Doch welcher Gott war so grausam, dass er den größten Teil seiner Kinder bestrafte und nur wenige errettete?, fragte Leonora sich.
    Die Menschen drängten sich immer enger aneinander, und die Taschendiebe waren bereits flink am Werk und trennten mit ihren Messerchen die Geldbörsen von den Gürteln. Obwohl das Kirchenportal offen stand, war die Luft bereits schwül und stickig. Ein immer stärker anschwellendes Raunen begleitete den Aufstieg eines Mannes auf die Kanzel. Er trug eine schwarze, speckige Kapuze, die ihm bis über die Augen reichte. Als er oben ankam, hob er seinen prüfenden Blick zum Gewölbe des Kirchenschiffs – vielleicht um direkt die Worte des Allmächtigen zu empfangen, die er den Gläubigen verkünden würde. Viele taten es ihm gleich und schauten nach oben. Einige zeigten mit ihren Fingern zwischen die Balken – als materialisiere sich der Herr dort jeden Moment. Dann hob der Mönch anklagend seinen rechten Zeigefinger und ließ ihn von oben über die Menge kreisen, während er sich mit seiner linken Hand an die hölzerne Brüstung krallte, als wolle er sie hinabschleudern – so groß war die göttliche Wut, die durch seine Glieder strömte.
    »Bereut!«, schrie er. » Die Hand Gottes wird auf euch niederkommen.

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