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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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einem See aus Steinen versunken, der um sie herum floss. Ohne zu verstehen, senkten sie ihre Schwerter. Auch die Banditen waren irritiert und hielten verunsichert ein. Diese fließende Steinbarriere jagte nicht nur ihnen Angst ein: Mit weit aufgerissenen Augen scheuten die Pferde und versuchten verzweifelt, einen Fluchtweg zu finden. Der Anführer der Banditen schrie und ließ sein Schwert über seinem Haupt kreisen. So schnell wie sie gekommen waren, verschwanden die Mongolen wieder in der dunklen Nacht. Kurz darauf fielen die Steine wieder zu Boden. Zwischen ihnen saß Jesus – mit dem Horn im Anschlag. Seine Augen wanderten zwischen ihnen und dem Instrument hin und her, und er lächelte. Sayed verstand und trat zu ihm.
    »Es funktioniert also. Dein Glaube hat uns gerettet.«
    »Meine Mutter sagte mir immer, dass man nicht an fliegende Esel glauben solle. Wenn man aber noch nie einen Esel gesehen habe, sei Zweifeln erlaubt.«
    Sie überquerten noch eine Bergkette und kamen schließlich im breiten Tal des Indusflusses an. An seinen Ufern hielten sie in Mankera, wo Sayed Karren und schnellere Pferde für die Durchquerung der Ebene kaufte. Mittlerweile befanden sie sich in Reichweite von Dschidda, wo Sayeds Haus stand. Dieser, erfüllt von Vorfreude und Sorge zugleich, schaute prüfend in den Dunst und hielt sich dabei schützend die Hand vor Augen. Es war lange her, seit er zuletzt zu Hause war, und in der langen Zeit seiner Abwesenheit konnten Piraten oder Rajas viel Schaden angerichtet haben. Er war so vertieft in seine Gedanken, dass Sayed den Blick von Jesus, der auf ihm ruhte, erst nach einer Weile bemerkte.
    »Es ist nicht wahr, dass der Gott der Juden grausam und bedrohlich ist. Wenn du dich aber in Gefahr befindest und eine höhere Macht anflehst, dir beizustehen – welcher Name kommt dir dann als Erstes über die Lippen? Ist es nicht ›Mutter‹?«
    Sayed strich sich über den Kopf und lächelte.
    »Verzeih, aber ich hatte nicht die Absicht, dich oder deine Religion zu beleidigen. Und wenn ich es bedenke, so hast du recht. Aber sag mir, wie kommst du darauf?«
    »Unser Gott wird in unserer Sprache der Unaussprechliche genannt, JHWE , oder Imma – Mutter. Aus dieser Wurzel leitet sich aber auch das Verb ›sich schenken‹ ab. Und ist es nicht so, dass die Liebe das größte Geschenk ist? Wenn Gott Liebe ist, dann ist er also auch unsere Mutter, und eine Mutter ist nie grausam.«
    Sayed zog die Zügel an, und der Karren blieb stehen. Er verschränkte seine Arme, runzelte die Stirn und saß einen Augenblick nachdenklich schweigend da.
    »Du machst dir einen Spaß mit mir«, sagte er dann.
    »Vielleicht«, antwortete Jesus, ohne ihn anzuschauen. »Aber es ist etwas Wahres in dem, was ich dir gesagt habe. Übrigens möchte ich gerne mehr über euren Gott erfahren, um vergleichen zu können, welcher der bessere ist.«
    Für einen Augenblick sahen sie einander an, und Jesus begann zum ersten Mal, seitdem er von seinen Eltern getrennt worden war, zu lachen. Sayed fiel ein, und sie lachten Tränen. Dies war der Beginn ihrer Freundschaft. Als sie sich wieder beruhigt hatten, nahm Sayed die Zügel wieder in die Hand, schnalzte mit der Zunge, und die Pferde nahmen gehorsam ihren Trott wieder auf. Es war, als röchen sie den Heimatstall, den sie nie gehabt hatten.
    »Ob du es glaubst oder nicht, ich habe keinen Gott, aber ich versuche den Gesetzen eines Prinzen zu folgen, den wir den ›Wiedererwachten‹ nennen. Er wurde in den höchsten Bergen, dem Sitz des ewigen Schnees, geboren. Ein paar Tage nach dem Überfall der Banditen konntest du diese Berge am Horizont sehen.«
    »Bevor ich nach Hause zurückkehre, werde ich dort hinaufsteigen«, sagte Jesus. »Aber erst, wenn ich alles über diesen Prinzen weiß. Du hilfst mir doch zu lernen, nicht wahr, Sayed?«
    Sayed erschauerte und verstand, dass sein Leben nicht mehr so sein würde wie bisher, wenn er Jesu Bitte erfüllte. Wer weiß, vielleicht hatte Aban ja recht gehabt, schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht würde dieser Jüngling ihm tatsächlich die Seele austrocknen – oder aber seiner Existenz einen völlig neuen Sinn geben.
    Gua Li war mit ihrer Geschichte zu Ende. Bayezid schien eingeschlafen zu sein. Sie sprang leichtfüßig auf, Ada Ta öffnete leise die Flügel der Tür, und vorsichtig schlüpften sie hin aus, schlossen das Portal achtsam hinter sich zu und huschten lautlos den langen Gang entlang.

15
    Florenz, 15. Mai 1497
    »Macht Platz!«
    Ein

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