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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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religiösen Führer, war er von der höchsten Würdenträgerin persönlich ernannt worden. Er, Osman, der Krüppel, der Sohn einer Hure und eines unbekannten Vaters, würde Wesir werden. Wahrlich – Allah war gerecht.
    »Und nun geh, liebster Sohn, überbringe die Rache Gottes und kehre alsbald in Unsere Arme zurück.«
    Während er zum Ausgang ging, wiederholte sich Osman mehrmals den letzten Satz und wurde ganz rot bei dem Gedanken, was sich hinter diesen Worten wohl verbergen könnte.
    »Er wird nicht überleben können«, sagte der Ulama. »Wenn er am Hofe des Mannes im weißen Gewand vorstellig wird und sie dann sehen, was geschieht, werden sie ihn foltern, aufhängen und verbrennen.«
    »Seine Rückkehr ist auch nicht vorgesehen«, antwortete die Wächterin. »Das Opfer eines Einzelnen wird vielen nutzen. Das Paradies ist nicht so groß wie die Gehenna. Für jeden, der aufsteigt, werden mindestens hundert hinabstürzen. Der Wesir wird für den Misserfolg seines Attentäters bezahlen. Aber ich will, das Bayezid vor dem Winter zu seinem Vater geht.«
    Die Sichel des Mondes und die Sterne tauchten den Sand in ein schimmerndes Licht. Die Nacht ließ aus der Erde Gerüche aufsteigen, und Osman vermeinte, den seltenen Duft von Tulpen und getrockneten Datteln zu riechen. Im nahegelegenen Palmenhain, nahe der Moschee, erwartete ihn sein Pferd, ein Vollblut, klein und leicht wie er selbst, mit dunklen Augen, die wie Obsidiane glänzten. Er nahm mit der einen Hand die Zügel auf und legte die andere auf die Nüstern des Tieres, und als er an dem Eisentor einer ehemaligen persischen Festung, die von einer hohen Mauer umgeben war, vorbeikam, erschauerte er. Das war das Tor zum Hinnom, dem Tal der Hölle. Dort züchteten sie die Ratten für den Jüngsten Tag. Von dort aus hatte der Krieg gegen den Okzident begonnen, und dort hatte man die Ungläubigen hineingestoßen, damit sie verseucht würden. Wer durch den Willen Allahs überlebte, würde die Wahl haben: entweder dort als Wache zu dienen oder zu sterben. Wer dort hineinging, würde nie wieder lebend herauskommen.
    »Nun, Qalam«, sagte er, als er auf sein Pferd stieg, »flieg, flieg leicht dahin.«
    Qalam bedeutete Feder, und während der schwarze Araber leicht dahingaloppierte, als flöge er über den Erdboden, wischte die kühle und trockene Luft alles hinfort: die Vision der Gehenna, die Feuchtigkeit der Grotte und die Angstlust, die er als die höchste Waffe Allahs empfand. Viele Male hatte er sich gefragt, wer diese Frau, die eine so große Macht besaß, in Wirklichkeit war. Einige erzählten, sie sei ganz alleine in der Wüste aufgewachsen, andere, sie sei die Reinkarnation Fatimas, der vierten Tochter des Propheten, gepriesen sei Er. Wieder andere sagten, sie sei ein Engel in Frauengestalt und direkt von Gott gesandt, um die islamische Nation, die Dar a l-Islam, zu vereinen. Und sie war geschickt worden, um in die Länder des Krieges einzudringen, um ihnen das Wort Gottes mit dem Schwert zu bringen. Damit wollte sie das genaue Gegenteil von dem, was sich der Sultan zum Ziel gesetzt hatte. Er war immerzu nur damit beschäftigt, mit den Ungläubigen, Juden und Christen, über den Frieden zu verhandeln, und hatte darüber die Scharia, das Gesetz des Propheten, gepriesen sei Sein Name, vergessen.
    »Lauf, Qalam, flieg dahin!«
    Die beginnende Morgenröte ließ schemenhaft die Minarette Istanbuls erahnen. Von Müdigkeit übermannt, fragte sich Osman plötzlich, ob Gott auf der Seite Bayezids oder auf der Seite der Großen Mutter stand. Und vielleicht – da ihre Visionen so weit auseinanderlagen – existierte ja noch ein anderer Gott? Aber diese frevlerischen Gedanken verschwanden so schnell wieder aus seinem Hirn, wie sich die Fühler einer Schnecke zurückziehen. Er presste seine Fersen an die Flanken seines Pferdes, das ohne Anstrengung noch schneller dahinflog, denn es roch bereits den Geruch der Heimat, den großen Stall des Serailpalastes. Auch Osmans Heim befand sich innerhalb der Palastmauern – ein armseliges Zimmerchen, direkt neben den Ställen. Wenn alles gut gegangen wäre, Alhamdulillah , Allah sei Dank, dann würde er eines Tages schöne Gemächer und Sklaven haben und eine Terrasse, auf der er die Sterne würde beobachten können: die Löcher in der himmlischen Decke, durch die das Licht des Paradieses fällt. Und vielleicht die Liebe der Wächterin .

22
    Die Adria, 4. Juli 1497
    Der Bug der Galeere flog über die leicht gekräuselten Wellen des

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