Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
zu einer Zeit, als der Purpur und die Tiara noch in weiter Ferne lagen. Und sie war die Einzige, die ihn immer angespornt hatte, für seine Träume zu kämpfen – alles und jedem zum Trotze – und sie niemals aufzugeben – auch in Momenten, in denen alles verloren schien. Wenn eines Tages das Königreich Italien und die Dynastie der Borgia ausgerufen werden würden, dann, überlegte Alexander, gewährte er ihr vielleicht sogar die Befriedigung, sein Eheweib zu werden.
Ein weiterer Grund, sie schnellstmöglich zur Witwe zu machen.
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Anatolische Halbinsel, Ende Juni 1497
Am Unterlauf des Sakarya-Flusses versammelten sich seit mehreren Tagen Pilgerströme aus Pontus, Galatien und Phrygien. Es waren vorwiegend Männer, aber es reisten auch Frauen unter ihnen. Sie trugen den Niqab, einen weiten schwarzen Schleier, der nur die Augen freiließ. Niemand wagte es, den Frauen zu nahe zu treten, auch wenn sie alleine und ohne jeden Schutz unterwegs waren – denn war der erste Gläubige nicht Chadischa gewesen, das erste Weib des Propheten? Und waren es nicht die Frauen gewesen, die dem Aufruf der Wächterin des Berges als Erste gefolgt waren? Es war also weniger das Geschlecht, das den Muselmanen von einem Ungläubigen unterschied – sondern das blasphemische Verhalten derjenigen, die außerhalb der Umma , der islamischen Gemeinschaft, standen.
Die geordnet und schweigsam auftretenden Charidschiten betrachteten sich selbst als Gottes auserwähltes Volk und hatten sich deshalb geweigert, den vier Kalifen und selbst Ali, dem Cousin und Schwiegersohn des Propheten – gepriesen sei Sein Name –, zu folgen. Schiiten und Sunniten hatten sich vom wahren Glauben abgewandt. Die Ungläubigen konnten auf Vergebung hoffen – immerhin hatten sie den wahren Gott nie kennengelernt –, diejenigen aber, die Gott kennengelernt und sich von ihm entfernt hatten, waren Fasiq, Kafir, Munafiq und Murtadd : frevelhafte Sünder, Ungläubige, Heuchler und Abtrünnige – und sie alle verdienten den Tod, ohne Gnade.
In dem kleinen Örtchen Ukbali verdichtete sich der Strom der Gläubigen. Das Minarett diente ihnen als Orientierung und Sammelpunkt: Hier strömten alle Pilger gemeinsam in die kleine Moschee mit der schwarzen Kuppel. Die Wächter, die mit nackten Oberkörpern und dicken Bäuchen den Eingang bewachten, schauten den Gläubigen prüfend in die Gesichter und ließen sie dann, Mann für Mann, einen nach dem anderen passieren. Nur ab und an hielten sie einen Pilger an, dessen Gesichtsausdruck und Benehmen ihnen nicht devot genug erschien, und rissen ihn zu Boden. Hatte der Verdächtige Glück, wurde er nur mit Peitschenhieben davongejagt; erregte er weiter Verdacht, wurde er mit zwei schnellen Hieben des Krummsäbels enthauptet und sein Kopf als Mahnung auf einer Lanze am Eingang der Moschee aufgespießt.
In der Moschee führte eine Treppe in die Tiefen der Erde, zu einer unterirdischen Höhlenstadt, hinab. In den vergangenen Jahrhunderten hatten ihre unzähligen natürlichen Höhlen der Bevölkerung Schutz vor Verfolgungen und Plünderungen durch Eindringlinge und Eroberer gewährt. Diese unterirdischen Höhlen, die mit Luftschächten, Getreidespeichern, Wasserzisternen, Ställen, Küchen und Schlafräumen ausgestattet waren, waren auch nach wie vor bewohnbar.
Mit einer kleinen, in Eisenstaub getauchten Fackel stiegen die Gläubigen stillschweigend zwischen den Kalkwänden, die nur von ein paar Öllampen beleuchtet wurden, hinab und gelangten so in die große Grotte. Ob von Menschenhand oder geradewegs von Gott selbst erschaffen – sie war ein Beispiel natürlicher Perfektion, sechshundert Fuß lang und sechzig hoch. Die wahren Gläubigen wussten, dass die Zahl 6 die sechste Säule des Islam darstellte, den Dschihad. In der Tat: Der Heilige Krieg verband sie alle, und in der Grotte symbolisierte ihn ein gigantischer Stalagmit, der wie das mächtige Schwert Allahs in der Erde steckte und dessen Klinge bis in den Mittelpunkt der Erde zu reichen schien. Am Tag des Jüngsten Gerichts würde Allah das Schwert aus der Erde ziehen und furchtbare Erdbeben und schreckliche Kataklysmen auslösen. Die ganze Welt würde zerstört werden an jenem Tag und die Charidschiten in den Garten Eden kommen, während alle anderen in die Dschahannam , die infernalische Hinnomschlucht, gestürzt würden.
Bei Sonnenuntergang, der Stunde des Abendgebets Maghrib , wurden die Türen geschlossen. In der Grotte leuchteten Hunderte von Fackeln. Auf einem
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