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Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Adolfo Martigli
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Meeres dahin, und ihr flacher Rumpf ließ die Spur des Kielwassers am Heck nur erahnen. Wären die Ruder nicht gewesen, hätte man sie nachts mit eingeholten Segeln und ohne Licht an Bord für den Schatten eines behäbigen Wales halten können und das Licht des Leuchtturms von Korfu mit dem tiefsten Stern des Firmaments verwechseln. Doch Khayr al-Din ließ sich nicht in die Irre führen. Er gab Befehl, den Rhythmus zu verlangsamen, um jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Wenn sie auch nur eine einzige der venezianischen Galeeren – besonders die wendigen Trieren – kreuzten, die vor der Insel patrouillierten, würden sie versenkt oder noch schlimmer: Das Schiff würde geentert. Wenn dann auch noch jemand ihn oder einen seiner beiden Brüder erkannte, würden sie ausgepeitscht, gevierteilt und ihre Reste aufgehängt. Jeder Pirat, der etwas auf sich hielt, kannte die Gesetze des Meeres und war bereit, die Zeche dafür zu zahlen – am liebsten jedoch erst nach einem langen Leben. Wenn sie es geschafft hatten, diese verdammte Festung ungesehen zu umschiffen, würden sie am nächsten Morgen die Gewässer des Sandschak erreichen, die seit über dreißig Jahren als sicher galten. Und irgendwann würden sie in der roten Moschee beten und dem Herrn danken. Er für seinen Teil würde nicht so sehr dafür Dank sagen, dass er die Reise voller Gefahren überstanden hatte, sondern dafür, dass er sich endlich von dieser Frau an Bord befreit hatte.
    Nicht weil sie Unglück brachte – er hatte nie an die Gerüchte geglaubt, dass Frauen an Bord Unglück bringen sollen. Vielmehr lag das Problem darin, dass das Verlangen nach ihr die Matrosen ablenkte und sie aggressiv machte – nicht selten artete ihre Rivalität in wüste Messerstechereien aus.
    In diesem Fall war es jedoch anders: Die Frau stellte eine Gefahr dar: Sie war eine Hexe. Vielleicht eine dieser schrecklichen schlitzäugigen Hexen, die einen in den Wahnsinn treiben konnten: Genau darüber hatte er nämlich Reisende aus dem Land der hohen Berge sprechen hören. Osman hatte nur von drei Fremden gesprochen, aber kein Geschlecht erwähnt. Dieser verfluchte Krüppel stand gut bei Hofe, und Khayr al-Din brauchte die Unterstützung des Sultans, sollte er verfolgt werden. Hätte er jedoch vorher gewusst, dass unter den Fremden auch eine Frau war und über welch magische Kräfte sie verfügte … ihre Stimme, ihre königliche Haltung, ihre exotische Schönheit und diese Augen, die vor nichts Angst zu haben schienen. Sie war eine Sirene, die einen mit Worten verzauberte, die klar wie Wasser, gewichtig wie Eisen und so wertvoll wie Gold waren. Und es war nur zu offensichtlich, dass sie ein als Engel verkleideter Dämon war: Wer außer einem Dämon wäre sonst fähig, mit nach unten hängendem Kopf zu schlafen oder wie ein Frosch sechs Spannen weit zu springen? Oder gar die fliegenden Messer der Matrosen mit ihrem Stock abzuwehren und dabei mit dem Rest ihres Körpers vollkommen regungslos zu bleiben?
    »Übernimm das Ruder, Elias!«, sagte Khayr al-Din. »Ich drehe eine Runde.«
    »Du gehst wieder, um dieser Frau zuzuhören, Bruder, nicht wahr? Aber sei wachsam. Nimm meine Hand Fatimas und gib sie mir zurück, wenn du dich ruhiger fühlst.«
    Khayr al-Din nahm das antike Amulett seines Bruders und hielt es fest in seiner geschlossenen Faust. Entschlossen näherte er sich der Frau, die sich gerade zu den beiden Fremden und dem Krüppel gesetzt hatte. Der Einzige, der ihn jetzt verstehen würde, wäre sein Vater, dieser Halunke. Sein Vater wusste, dass der Raki Gift für ihn war – es reichten wenige Schlucke, und schon verlor er sich in einem Nebel, der ihn dazu brachte, Frau und Kinder zu schlagen. Doch wie sehr er sich auch bemühte – sobald er auch nur einen vagen Anisgeruch wahrnahm, konnte er nicht widerstehen: Die Unterwelt ist verführerischer als das Paradies, pflegte sein Vater dann immer lächelnd zu sagen – und zwar einen Augenblick, bevor er anfing zu trinken und die Bestie, die in ihm hauste, von der Leine ließ. Und genauso wirkten die Worte dieser Frau auf Khayr al-Din: Auch in dieser Nacht würde er sich wieder an ihnen berauschen.
    Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch durch das prunkvolle Domizil von Al Sayed schwirrten bereits Stimmen und Befehle. Es hatte die ganze Nacht geregnet; der Monsunregen war wegen der großen Hitze der letzten Monate früher eingetroffen als erwartet. Jeder sog die Luft tief durch die Nase ein und beobachtete die sich

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