Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
schnell auftürmenden dicken Regenwolken. Solange der Wind blies, würde es allerdings keinen Regen geben. Die großen Zelte wurden vorsorglich mit robusten Haken im Boden verankert, damit sie nicht wegfliegen konnten. Sayed erwachte und befreite sich aus der Umarmung der jungen Shudra, mit der er seit ein paar Wochen seine Bettstatt teilte. Leise stand er auf und setzte sich an seinen Schreibtisch vor dem Fenster, das zum Park hinausging. Er zog die Vorhänge zur Seite und beobachtete die Vorbereitungen für das Parashuramafest. Am dritten Tag des zunehmenden Mondes würden ihre guten Taten einen bleibenden Einfluss auf das Karma der Gläubigen haben.
Sayed fröstelte ein wenig, und er rieb sich die Arme. In Wirklichkeit interessierten ihn die Feierlichkeiten der Sechsten Verkörperung Vishnus , die in Anwesenheit der Brahmanen und ihrer Rituale zelebriert wurden, überhaupt nicht mehr: weder die Prozession, die frischen Blumen, die den jahrhundertealten Pilgerweg schmückten, noch der Weihrauch und die – ebenfalls seit Jahrhunderten unveränderten – rezitierten Formeln. Als ob der Geist formelle Regeln brauchte, um sich über die menschliche Hülle zu erheben und in die Herzen der Menschen einzutauchen! Das aber wiederholte ihm Īsā seit einiger Zeit immer wieder – es war schon fast zu einer fixen Idee geworden. Mittlerweile konnte Sayed ihm seine Fragen nicht mehr beantworten – beide wussten dies und lachten darüber –, nunmehr war er derjenige, der Īsā Fragen stellte und ihm zuhörte. Sayed lächelte. Er stellte sich die Gesichter der Brahmanen vor, wenn Īsā ihnen seine Gedanken über den Sinn des Lebens vorlegen würde. Shudra seufzte im Halbschlaf.
»Sayed, komm wieder ins Bett«, flüsterte sie. »Es ist noch früh. Worüber sorgst du dich?«
Das war genau das Problem: Er hatte sich nie um etwas Sorgen machen müssen. Sayed war immer wohlhabend gewesen, und er hatte seinen Reichtum mit den Jahren sogar noch vergrößert. Nie war er krank gewesen, nie hatte er geheiratet.
Aber seit zwei Jahren hatte sich etwas verändert: Er hatte Debal nicht mehr verlassen, und zwar nur deshalb, weil er Jesus nahe sein und ihm beistehen wollte. Noch war ihm allerdings nicht klar, warum er das wollte. Sayed wusste nur, dass er es als süße Pflicht empfand, bei dem Jungen zu sein, und dass er sich in dessen Nähe rein und geläutert fühlte. Von Monat zu Monat fühlte er sich kräftiger, freier und glücklicher.
Für sie beide war ein wichtiger Tag angebrochen. Jesus oder Īsā, wie ihn mittlerweile alle im Haus nannten, hatte Tag und Nacht über den Büchern verbracht, hatte meditiert oder war im Tempel gewesen, um den Priestern zuzuhören. Beim Parashurama fest würde er ihm nicht helfen können, aber er war sich sicher, dass Īsā die Brahmanen eines schönen Tages mit seinen Fragen in Bedrängnis bringen würde und dass er als Herr des Hauses dann keine Ruhe mehr haben würde. Vielleicht würde er sogar angeklagt oder aus seiner Kaste verstoßen werden und seinen Reichtum verlieren. Aber all das bereitete ihm so großen Spaß wie noch nichts zuvor in seinem Leben.
Die Sonne stand schon fast im Zenit, als drei heilige Feuer auf den großen Feuerstellen angezündet wurden. Der Wind trieb die Flammen gen Orient und wirbelte die Blüten der Blumen, die im gesamten Park verteilt worden waren, durch die Luft.
»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte der erste Brahmane Kaladdah und breitete die Arme aus. »Der Kosmos ist im Orient geboren, und von dort kommt die Weisheit der Erde.«
Alle lächelten zustimmend. Der Brahmane warf mehrmals Schwarzpulver ins Feuer, worauf eine Kaskade kleiner Funken gen Himmel sprang. Dann begann der zweite der vier Brahmanen einige Passagen aus dem Rigveda vorzulesen.
»Aus dem Nichts wurde das Wesen geboren, das das Eine ist, auch wenn es viele Götternamen annimmt. So wie Aditi Vater, Mutter und Sohn, der Himmel und alle Götter ist. Aditi ist das, was bereits geboren ist und das, was noch geboren wird …«
Die Sonne hatte das letzte Viertel ihres Laufs erreicht. Nach den Versen des Rigveda hatten die Brahmanen das Yajurveda, die Melodie des Samaveda und die Formeln des Atharvaveda rezitiert. Gelangweilt spazierten die Gäste im Innenhof des Hauses und im Garten umher; ein Diener, der in absoluter Bewegungslosigkeit zu verharren hatte, war bereits in Ohnmacht gefallen. Das gehörte zur Tradition, genauso wie die Wetten zwischen den Gästen, welcher Diener als Erster umfallen
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