Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Herzschlag.
»Dieser Mann hat sich der Gotteslästerung schuldig gemacht.« Sie , die Große Mutter , breitete die Arme aus. »Dieser Mann hat gesündigt, dieser Mann hat Allah hintergangen. Was verdient dieser Mann?«
»Al Mawt! Al Mawt!« Tausende Stimmen riefen kollektiv: »Den Tod!«
Die Große Mutter hob den Kopf, und der Gefangene wurde über den Rand des Felsvorsprungs gestoßen. Der Riese stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden und hielt das Strickende fest. Die Füße des Erhängten baumelten nur ein paar Zentimeter über dem Boden, und seine Beine zappelten unkontrolliert, während er verzweifelt versuchte, sich mit den Händen den Strick vom Hals zu reißen. Noch ein paar Atemzüge und ein letzter Seufzer – dann pendelte der leblose Körper wie eine Stoffpuppe am Strick hin und her. Der Riese riss noch einmal am Strick, um sicherzugehen, dass der Gefangene auch wirklich tot war. Dann ließ er ihn fallen und warf den Strick hinterher.
» Allahu Akbar !«, schrie die Menge – und eilig begannen die Wachen, die Menge zum Ausgang zu schieben. Dabei setzten sie dünne Stöcke ein, die sie auf die Rücken der Gläubigen niedersausen ließen. Manch einer fiel hin und wurde niedergetrampelt, aber niemand kümmerte sich weiter darum. Sie zog sich mit ihren Priestern und einer Gruppe von Imamen und Ulamas zurück, während der Körper des Verurteilten weggeschleift und in einen tiefen Brunnen geworfen wurde.
Die Wächterin saß mit den Männern in einem Kreis; hinter ihr standen zwei mit Krummsäbeln bewaffnete Wachen und der Riese. Ohne die Kapuze eines Henkers sah er ganz friedlich aus – seine weichen Gesichtszüge und die glatte Haut bezeugten, dass er ein Eunuch war. Die anwesenden Männer wagten nicht, in ihr Antlitz zu blicken, obwohl es verschleiert war. Ihre schneidende Stimme war sicher und klar und legte Zeugnis ab von ihrer unangefochtenen Autorität.
»Derjenige, der Fehler beging, ist bereits bestraft worden, aber der große Kafir, der Ungläubige, ist noch am Leben, und das wiegt schwer. Nun wird es lange Zeit keine Gelegenheit mehr geben, ihn zu richten. Osman, an welchem Punkt ist das Frachtgut?«
»Große Mutter, der Übereinkunft mit dem Wesir entsprechend, haben wir weitere Kisten mit Teppichen nach Venedig zu einem anderen Kaufmann verschifft. Sein Vorgänger büßt bereits in der Hölle für seine Sünden. Wir haben auch mehr Nahrung und Wasser für unsere kleinen Verbündeten in die Kisten getan, damit sie länger überleben.«
»Und die Kiste, die den Glauben zum Papst bringen soll?«
»Sie wird mit mir auf dem Schiff der Fremden reisen. Auch sie fahren nach Rom – wir werden die Reise gemeinsam antreten.« Osman verneigte sich und bedeckte dabei sein Gesicht mit seinen Händen, als wolle er beten.
»Wenn die Kiste mit den wertvollen Teppichen als Gabe des Sultans in seinem Beisein geöffnet wird, werden sich unsere Freunde im Palast wie der Morgennebel ausbreiten.«
»Ich bin stolz auf dich, Osman – der Islam ist stolz auf dich. Halte dich nahe bei den Fremden auf und versuche zu erfahren, was es mit ihrer Mission auf sich hat. Es gehört nicht zu den Gepflogenheiten des verfluchten Kafirs, eine junge Frau unberührt zu lassen«, sagte sie abfällig, »und darum muss es einen anderen Grund geben. Finde ihn heraus.«
»Das werde ich tun. Mit ihnen reist übrigens auch ein italienischer Baumeister …«
»Dieser schamlose Träumer, der die beiden Ufer des Goldenen Horns durch eine sechshundert Klafter lange Brücke miteinander verbinden will! Wäre es der Wunsch Allahs gewesen, dass sich die beiden Ufer berühren, hätte er es in einer Nacht vollbracht. Steht in der Sure über die Dichter nicht: Baut ihr denn auf jeder Anhöhe ein Wahrzeichen und treibt ein sinnloses Spiel ? Sie sind Ungläubige. Und du? Hast du mit ihm Unzucht betrieben, Osman?«
»Niemals, Große Mutter .«
Die Ulamas lächelten und nickten einander zustimmend zu. Die Weisheit und der Geist Allahs waren bei ihr.
»Du bist von Allah gezeichnet worden, Osman«, fuhr die Wächterin fort. »Er hat dir ein Zeichen seines Wohlwollens gesandt. Osman, der Hinkende«, und sie wandte sich an die versammelten Männer, »wird an meiner Seite sitzen, wenn die Gerechtigkeit triumphieren wird.«
»Amen«, antworteten alle im Chor.
Osman sah, wie sich die Türen zum Paradies für ihn öffneten. Die Wächterin hatte es öffentlich verkündet, und niemand hatte Einspruch erhoben. In Anwesenheit der Ulamas, der
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