Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
würde. Neben den Feuerstellen lagen die Reste einiger Ziegen und junger Schweine. Ihr Blut hatte die Blüten beschwert, die nun rot und schwer am Boden lagen, und auf dem Feuer brannten noch die wertvollen Statuen, welche die Gäste als Opfergaben mitgebracht hatten. Daneben glühten vom Feuer geschwärzte, verbeulte Silberspiegel und Dolche mit Griffen aus Horn oder Elfenbein. Mittlerweile waren auch die Brahmanen ganz erschöpft, setzten sich an die Feuerstellen und bereiteten sich auf die Fragen der Gläubigen vor. Der erste Fragende war ein Jüngling mit ein bisschen Flaum um die lächelnden Lippen. Er hatte ein Mädchen an der Hand. In einen Sari gekleidet, trippelte sie verängstigt und mit gesenktem Blick auf sie zu. Sayed verschränkte die Arme und holte tief Luft.
»Mein Name ist Īsā, und ich bin sehr an Euren Gepflogenheiten interessiert«, sagte der Jüngling an Kaladdah gewandt, der beim Wort »Gepflogenheiten« eine Augenbraue hochzog, »aber ich habe ein paar Zweifel.«
»Sprich, mein Junge. Zaudere nicht.«
»Warum habt Ihr eben Tiere und andere Dinge geopfert?«
Kaladdah schaute zu den anderen Brahmanen hinüber; sie wechselten verschwörerische Blicke miteinander.
»Das zu opfern, was am wertvollsten ist, dient dazu, um Dankbarkeit und Wohlwollen von denen zu empfangen, die sich nicht mit diesen Dingen umgeben.«
»Warum werden also nicht die Erstgeborenen geopfert?«, wandte Jesus ein. »Es gibt nichts Wertvolleres, und die Götter wären erfreut.«
Die drei Brahmanen wandten sich mit einem stupiden Lächeln an Kaladdah, der den Jüngling anstarrte. Auf einmal wurde es ganz still.
»Weil es verboten ist«, antwortete Kaladdah nach einer langen Pause. »Man darf nicht töten, weißt du das nicht?«
»In allen heiligen Schriften«, fuhr Īsā fort, »in den Gebeten, den Lobliedern, den Formeln, Riten und den Samaveda, steht kein einziges Wort, das dies verbietet. Ich bin Eurer Meinung, dass man nicht töten soll. Vielleicht kommt diese Regel aus einem inneren Prinzip des Menschen, das so stark wirkt, dass es die Götter nicht für angebracht hielten, es zu verschlüsseln.«
»Ja, das mag so sein«, fiel ihm Kaladdah ungeduldig ins Wort und schaute zu den Anderen. »Noch eine Frage?«
»Wenn es dem Menschen inne ist, nicht zu töten«, hakte Īsā nach, »warum tut er es dann trotzdem? Auf der Straße, im Krieg und sogar in seinen eigenen vier Wänden? Und warum habt Ihr heute Ziegen und junge Schweine getötet? Wo liegt der Unterschied? Manche Tiere töten, um zu fressen – aber lange nicht alle. Wem wollen wir ähneln? Dem wilden Tiger oder dem edlen Pferd? Der hinterlistigen Spinne oder dem sanftmütigen Hirsch? Auf den Tischen sehe ich Eierkuchen, Brot mit feinem Öl, Kichererbsenfladen mit Kräutern, delikate Kartoffeln, saure Sahne mit Ingwer und alle Sorten von Mandelspeisen. Überfluss und Vielfalt an Nahrung, für die kein Tropfen Blut vergossen wurde!«
»Wenn du dich in diesem Ton an den ersten Brahmanen wendest, bist du allzu anmaßend«, tadelte ihn ein Brahmane, der zu Jesu Rechten saß. »Studiere noch zwanzig Jahre, und du wirst die Antworten auf deine Fragen erhalten!«
»Nein!«, unterbrach ihn Kaladdah. »Der Jüngling hat recht. Er weiß allerdings nicht, dass unsere Riten dazu dienen, die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Ohne sie würde alles im Chaos versinken. Die menschliche Rasse verginge – nur die Stärksten würden überleben, und wir fielen in die Dunkelheit des Anbeginns der Erde zurück.«
»Danke, Brahmane«, antwortete Īsā. »Nun habe ich die Wichtigkeit des Ritus verstanden. Wie du sagtest, diente er dem Zusammenhalt der Menschen, der Schärfung des Bewusstseins dafür, dass wir die auserwählte Spezies sind. Alle müssen sich dem Ritus anschließen, um das Weltgefüge zu bewahren. Ich bitte dich daher, dieses Mädchen in unsere Mitte aufzunehmen, es mit unseren Sitten und Gebräuchen vertraut zu machen, auf dass sie von ihnen beschützt und bewacht werde.«
Kaladdah blinzelte misstrauisch und versuchte, in die Seele dieses Jünglings zu schauen. Er hatte das Gefühl, dass dieser Īsā ihm eine Falle stellte, denn er hatte darauf verzichtet, seine Argumente zu widerlegen, und ihn damit aus der Ruhe gebracht. Der erste Brahmane betrachtete die junge Frau, die fast noch ein Mädchen war: Sie trug einen rotgrünen Sari von vortrefflicher Qualität; ihre eingeölten schwarzen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten, der im Feuerschein glänzte. Ihre
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