Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Augen waren zart in Schwarz und Beige geschminkt, und ihre zierlichen, wohlgeformten Füße steckten in Sandalen. Der Brahmane blickte zu seinen Mitbrüdern, aber aus ihren Gesichtern war nichts herauszulesen, weder Sorge noch Zustimmung – nur eine gleichgültige und stumpfsinnige Leere. Vielleicht bekäme er endlich einen würdigen Schüler, wenn er diesen Jüngling unter seine Fittiche nähme; einen, der eines Tages seinen Platz einnehmen könnte. Kaladdah breitete die Arme aus.
»Sei willkommen, meine Tochter.«
Die junge Frau zitterte. Īsā schob sie sanft in seine Richtung, und so ließ sie sich von Kaladdah die Hände auf den Kopf legen. Der Brahmane nahm eines seiner Medaillons ab, warf Īsā einen fragenden Blick zu und hängte es dem Mädchen dann um den Hals.
»Das Gold, aus dem Feuer geboren, wurde den Sterblichen als etwas Unvergängliches gegeben; sein Träger wird erst in hohem Alter sterben. Ich lege es dir um«, sagte Kaladdah leise, »für ein langes Leben, für die Herrlichkeit, für Kraft und Ausdauer. Wie heißt du, mein Kind?«
Die junge Frau wich zurück, ohne ihm eine Antwort zu geben, während Īsā einen Schritt vortrat. Das war der Moment, auf den Sayed gewartet hatte. Es war der, der sein Leben entzweien würde.
»Sie wird den Namen tragen, den du ihr geben wirst, Kaladdah. Du bist der edelste der Brahmanen und von höchster Weisheit. Gib dieser Blume, die, wie du siehst, schön, aber namenlos ist, ihre Würde zurück. Aber lass sie nicht für Fehler bezahlen, die sie nicht begangen hat.«
Der Brahmane sprang auf, und ein Windstoß wirbelte sein rotes Gewand hoch. Der Jüngling hatte ihn hintergangen – vor aller Augen! Sie war eine Paria ohne Namen, und ausgerechnet er hatte sie freiwillig berührt und gesegnet!
»Der Schein trügt nicht«, fuhr Īsā weiter fort. »Du hast ihre Reinheit gesehen, so wie alle sie gesehen haben. Nenne sie Gaya wie die Freude. Sie wird dir freundlich gesonnen sein, Kaladdah, denn wir sind alle ihre Kinder – und vor ihrer Liebe und Weisheit alle gleich. Ich bitte dich Kaladdah, zerreiße ihre Ketten durch die Liebe – die gleiche Liebe, der auch wir entspringen. Denn es existiert nichts außer der Liebe, und nicht einmal das Wissen der Veda kann es auffangen.«
Als die Brahmanen sahen, dass der erste Brahmane die Fäuste ballte und seinen Mund zusammenpresste, standen sie auf und taten es ihm gleich. Der vierte jedoch starrte Īsā weiterhin mit leicht geöffneten Lippen an. Gefolgt von den anderen eilte Kaladdah mit großen Schritten davon, aber als er an Sayed vorbeikam, blieb er stehen.
»Du hast dein Haus entehrt und dein Dharma verletzt. Einundzwanzig Leben werden nicht reichen, um all das wiedergutzumachen. Du hast dem Dämon erlaubt, deinen Geist zu verwirren und öffentlich Schande zu begehen. Alles hier …«, Kaladdah öffnete seine Arme und drehte sich einmal um sich selbst, »… ist unrein. Ebenso unrein wie diejenigen, die sich dir nähern werden!«
Sayed hob die Hände vor sein Gesicht, legte die Handflächen aufeinander und verneigte sich mit der rituellen Formel.
»Sawasdee, Kaladdah.«
Während der Brahmane sich abwandte, vermeinte er aus dem Augenwinkel eine Grimasse auf Sayeds Gesicht zu erhaschen – möglicherweise ein Lächeln. Er zog es allerdings vor zu glauben, dass Sayed sein Gesicht vor Schmerz verzog.
»Und dann?«
Alle drehten sich zu Osman um.
»Den Rest kennt der Tejo und der Ganges und vielleicht sogar die Pole der Erde«, sagte Ada Ta, »jedenfalls sagte mir das ein Weiser, der sich nicht dafür hielt und es daher umso mehr war.«
Gua Li verdrehte ihre Augen, so wie immer, wenn sie etwas sagen wollte und nicht wusste, ob es auch wirklich angebracht war. Ada Ta lächelte sie an und schüttelte den Kopf. Auch sie kannte diesen Satz und seinen Ursprung aus der Feder des edlen Italieners, mit dem alles begonnen hatte. Sie neigte den Kopf, um ihre Gefühlsregung zu verbergen. Sie und Ada Ta wussten um die geheime Bedeutung dieses Satzes.
»Mein lieber Osman, morgen werde ich mit meiner Geschichte fortfahren. Ich habe die vielsagenden Blicke des Kapitäns bemerkt. Vielleicht beunruhige ich ihn ja mit meinen Worten, aber …«, flüsterte sie, »… ich kann euch bereits so viel verraten, dass Sayed seinen gesamten Besitz verkaufte und auf einem Karren mit Īsā gen Norden aufbrach. Zu den Bergen, die mit dem ewigen Schnee bedeckt sind.«
Der Krüppel drehte sich zum Kapitän um, der hinter ihm am Mast
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