Das Vermächtnis des Martí Barbany
nicht entging.
»Wie dem auch sei, ich rate Euch, dass Ihr die schmerzlichen Umstände, von denen ich Euch erzählt habe, im geheimsten Winkel Eures Gedächtnisses bewahrt und dass Ihr Laia niemals bedrängt, indem Ihr an diese tieftraurigen Dinge erinnert. Ich habe festgestellt, dass sie davon ganz entsetzlich betroffen ist. Bei der bloßen Erwähnung des Themas gerät sie außer sich und phantasiert. Ich kann mir nicht vorstellen, wie lange das dauern wird, doch die Ärzte, die sie untersucht haben, empfehlen absolute seelische Ruhe. Schließlich geht alles einmal zu Ende, und der Tag kommt, an dem Ihr alles Geschehene für einen schlechten Traum in einer schlechten Herberge haltet. Setzen wir unsere Mahlzeit fort. Danach lasse ich sie rufen. Seid nicht überrascht, denn Ihr werdet
finden, dass sie sehr abgemagert und verändert ist... Manchmal fällt es ihr sogar schwer, ein Gespräch zu führen.«
Martí warf Eudald einen sorgenvollen Blick zu.
Der Abend ging weiter, und auf Fleisch und Pasteten folgte kalter, mit einer weißen Brühe begossener Fisch. Als sie mit einer Aufsehen erregenden Zitronentorte schon beim Nachtisch angelangt waren, kündigte der Ratgeber an: »Der Augenblick ist gekommen.«
Er befahl dem Verwalter: »Holt meine Tochter.«
In diesem Augenblick meinte Martí, dass ihm das Herz in der Brust zersprang.
Laia kauerte im Winkel eines Balkons, der zum Garten ging. Sie hatte dem ganzen Gespräch, das an diesem Abend geführt wurde, aufmerksam zugehört. Als sie Martí erblickte, schien ihr ein Feuerwerk in der Brust zu explodieren. Die Erinnerungen, die sie an ihn bewahrte, waren ein schwacher Abglanz der Wirklichkeit, die sich vor ihren Augen zeigte. Er war viel stattlicher und anmutiger, als sie es im Gedächtnis hatte. Dies bereitete ihr jedoch keine Freude, sondern stürzte sie in maßlose Verzweiflung, und sie hielt sich seiner für noch unwürdiger als früher.
Seitdem Bernat sie zwei Tage zuvor aus Terrassa geholt hatte, wurde ihre Seele von tiefster Niedergeschlagenheit überwältigt. Die Freude, Martí wiederzusehen, vermischte sich mit Schamgefühl, das sie bewog, sich selbst für schmutzig und verachtenswert zu halten. Ihr drohte der Kopf zu platzen. Zuweilen stellte sie sich ein geruhsames und glückliches Leben an der Seite ihres Geliebten vor, dann wieder fühlte sie sich dieser von Betrug und Heuchelei bewirkten Liebe unwürdig. In ihrem dämmerhaften Bewusstsein erschien hierauf das ferne und unwirkliche Bild Aixas. Gab es sie tatsächlich, oder war sie eine Schöpfung ihres gepeinigten Geistes? Klar und deutlich hörte sie die Anweisung ihres Stiefvaters, und etwas geriet in ihrem Innern aus den Fugen. Sie stellte sich vor, dass Edelmunda gerade zu ihrem Zimmer lief, um ihr beim Ankleiden zu helfen. Sie durfte keine Zeit verlieren.
Sie stand auf und blieb ein paar Augenblicke reglos stehen. Ihr Entschluss war gefasst. Eine Steintreppe führte zum Wehrgang empor, der vor dem Castellvell-Tor endete. Dorthin lief sie. Die Stufen waren hoch und unregelmäßig. Diesen Weg benutzte beinahe niemand, nur die Außenwache begann dort ihren Nachtdienst, um das Mauertor zu kontrollieren.
Heftig atmend gelangte sie nach oben. Kalte Windstöße fegten ihr übers Gesicht und ließen ihr Haar flattern. Der Mond stand im abnehmenden Viertel, und sein milchiges Licht beschien die Leute, die in der von Mauern umgebenen Stadt gingen. Von oben waren stoßweises Gelächter und die Stimmen der Nachtwächter zu hören, die die Stunde angaben und Gott lobten. Sie atmete tief durch: Sie war zu einem Ort unterwegs, wo ihr niemand mehr schaden konnte und wo sie, nachdem sich ihre Seele von aller Schuld geläutert hatte, auf ihren Geliebten warten würde. Mit langsamen Schritten ging sie den Wehrgang entlang. Eine sonderbare Ruhe bemächtigte sich ihres Geistes. Laia blieb stehen und schaute über die Mauer, zwischen den Zinnen, die zum Hof am Eingang lagen. Mühevoll kletterte sie auf die Brüstung. Von dort aus blickte sie nach unten und sah, wie sich die Schatten verwischten. Eine Gruppe bewaffneter Wächter, die von einem Wachtmeister geführt wurde, teilte gerade den Dienst ein. Laia schaute zum Himmel und schloss die Augen. Dann sprang sie ins Leere.
Das Gemurmel und die gedämpften Rufe der Leute alarmierten den Hausherrn und seine Gäste. Die hastigen Schritte des Verwalters trommelten auf die Wegplatten, und mit verzerrtem Gesicht und heftig gestikulierend erschien er in der
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