Das Vermächtnis des Martí Barbany
»Ehrliche Leute kommen am Tag und klopfen an die Tür. Sagt mir jedenfalls, was Eure Gnaden wünschen.«
Nun sprach Martí.
»Nun denn: Wie viele Gefangene habt Ihr in den Burgverliesen?«
Der Mann runzelte die Stirn. Er sah etwas Ungewöhnliches voraus.
»In dieser Burg, die eigentlich gar keine ist, gibt es zwei Kerkerzellen: die eine benutzen wir, um das Viehfutter für den Winter aufzubewahren, und in der anderen befindet sich ein Gefangener.«
»Richtiger gesagt: eine Gefangene.«
»Tatsächlich, so ist es.«
»Wie lange ist sie schon eingesperrt?«
»Das weiß ich nicht genau: mehr oder weniger drei Jahre.«
»Ihr bringt uns zu ihr.«
Don Fabià erwiderte nichts. Im Grunde verabscheute er die Sache mit der Gefangenen, und wenn etwas geschah, was diese unrechtmäßige Lage beendete, würde er sich im tiefsten Herzen darüber freuen.
»Folgt mir.«
Die Gruppe lief los. Sie stiegen hinunter, gingen über den Waffenhof, ließen die Wachstube hinter sich und gelangten zu einer kleinen Tür. Der Verwalter befahl dort dem Offizier, näher mit der Wachskerze heranzukommen und die Tür zu öffnen. Futtergeruch entströmte dem Gang, der sich vor ihnen öffnete. Wie es der Verwalter mitgeteilt hatte, lagen in der ersten Zelle mehrere Stroh- und Luzernenballen übereinander. Am Ende des Gangs war eine Tür zu erkennen, aus der ein leichter Lichtschimmer drang. Dorthin liefen sie. Der Mann mit der Kerze blieb stehen und leuchtete hinein. Martí und Eudald schauten durchs Gitter. Auf einer Bank wälzte sich eine Gestalt, die aufzustehen versuchte. Sie war mit einem Sack aus Espartogras bekleidet, den sie über den Kopf gezogen und mit einem Gürtel um die Taille festgeschnürt hatte. Die Frau, denn es war eine Frau, richtete sich auf und strich sich die verfilzten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Als Martí entdeckte, wie schrecklich seine ehemalige Sklavin aussah, denn sie war beinahe nicht wiederzuerkennen, taumelte er und musste sich an die feuchte Wand lehnen.
»Öffnet die Tür!«
Das sagte Llobet in scharfem Befehlston.
Der Offizier nahm einen dicken Schlüssel von einem Wandhaken,
steckte ihn ins Schloss und drehte den Riegel. Die Tür knirschte in den Angeln, und als ihr Eudald einen Stoß gab, ging sie ganz auf. Martí stürzte hinein und hatte kaum Zeit, Aixa festzuhalten, als sie in seinen Armen ohnmächtig wurde. Man legte sie auf das elende Bett und flößte ihr Wasser mit einem großen Löffel ein, den einer der Männer holte.
»Was haben sie dir angetan, meine Freundin?«, fragte Martí flehentlich.
Die Frau antwortete nicht. Sie richtete nur ihre leeren Augenhöhlen auf ihn. Dann betastete sie langsam sein Gesicht, als wäre er eine Erscheinung, und schließlich wollte sie etwas andeuten, was ein Lächeln sein sollte. Eine bisher unbekannte Rührung durchströmte Martís Körper.
»Um Gottes willen, sagt etwas zu mir!«
Die Lippen der Frau öffneten sich leicht, und ein Röcheln entrang sich ihrer Kehle.
Trotz aller Gräuel, die er in seinem langen Soldatenleben gesehen hatte, konnte Eudald Llobet einen Schrei nicht unterdrücken, der Entsetzen und zugleich Zorn bekundete. Man hatte das Mädchen nicht nur geblendet, sondern ihm auch die Zunge abgeschnitten.
FÜNFTER TEIL
Geld und Ehre
83
Der Feldzug nach Murcia
E s war das Jahr 1058. Das katalanische Heer lagerte nahe bei Murcia und wartete darauf, dass sich ihm die Reiterei al-Mutamids anschloss. Die Männer hatten Nöte und Schwierigkeiten bestehen müssen und waren durch mehrere maurische Staaten gezogen, was ihnen mit Verträgen und Drohungen gelungen war, denn diese Zwergreiche hatten sich entweder mit ihnen verbündet oder es nicht gewagt, sich einer solch kampferprobten und zahlreichen Truppe entgegenzustellen. Die Gräfin hatte nicht nachgegeben und begleitete ihren Gemahl. In ihrem Gefolge hatte sie Lionor und Delfín – den eigenen kleinen Hofstaat – dabei. Doña Brígida und Doña Bárbara waren in Barcelona geblieben und kümmerten sich um Almodis’ Kinder, die Zwillingssöhne und die kleinen Mädchen Inés und Sancha. Zu ihrem großen Missvergnügen hatte eine ärgerliche Grippe diesmal ihren Beichtvater Eudald Llobet von ihr getrennt.
Ramón Berenguers Stimmung hatte sich verschlechtert, und er ließ die Übrigen für seine üble Laune büßen, was bei ihm ungewöhnlich war. Dazu trug auch das ungünstige Wetter bei. Es regnete unablässig, seitdem sie das Lager aufgeschlagen hatten. Die Zelte, das Viehfutter und
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