Das Vermächtnis des Martí Barbany
sich mit Finanzen auskennen, ihren Mitbürgern gegenüber als Schuldige dastehen. Was wir tun müssen, ist – und Montcusí teilt meine Ansicht -, dass wir ihr sichtbares Oberhaupt verantwortlich machen. Und das ist kein anderer als der jetzige Vorsteher der Geldverleiher. Er soll die ganze Strenge des Gesetzes zu spüren bekommen. Ich muss seinen Mitbürgern einen Sündenbock präsentieren. Danach werden sie sich in Streitgespräche verwickeln: Die einen werden für ihn sprechen und die anderen nicht. Wir entzweien sie und bringen sie gegeneinander auf. Aus ihrer Uneinigkeit gewinnen wir unsere Stärke, doch am Ende werden sie die Schuld mit Zinsen bezahlen. Ich weiß nicht, wo sie das Geld hernehmen, aber die Semiten kommen am Ende immer für alles auf, für das Geld und für die Folgen.«
»Und wen habt Ihr diesmal ausgewählt, damit er für den Schaden aufkommt?«
»Ich glaube, er heißt Baruch Benvenist.«
Damit mussten sie ihr Gespräch abbrechen. Der Lärm draußen und die langsamere Fahrt des Wagens zeigten, dass ihre Reise zu Ende ging. Ramón schob den Vorhang zurück, und seinen Blicken bot sich die Steinmasse der Burg.
Als die Vorhut auf die Zugbrücke ritt, kam ihr die Garnison mit dem Burghauptmann an der Spitze entgegen.
Der Fahrer pfiff, das Klappern der Pferdehufe verstummte, die Eskorte hielt an, und das Grafenpaar machte sich zum Aussteigen bereit. Der Burghauptmann, dem ein Teil seiner Männer folgte, trat vor und begrüßte die Grafen.
»Exzellenzen, unser Kaplan betet für die Gräfin, und der Arzt, der sie behandelt, ist keinen Augenblick von ihrer Seite gewichen. Trotzdem fürchte ich, dass Ihr nicht rechtzeitig kommt.«
»Dann verlieren wir keine Zeit.«
Mit diesen Worten eilte Ramón Berenguer I., der Graf von Barcelona, Gerona und Osona, in die Burg. Ihm lief ein Page voraus, der ein Glöckchen läutete, und ihm folgten Almodis und der Hauptmann seiner Eskorte.
Der Türwächter sah sie kommen und trat rasch zur Seite. Der große Raum lag im Halbdunkel, und es fiel dem Grafen schwer, sich in dem
Dämmerlicht zu orientieren. Als sich seine Augen darauf eingestellt hatten, nahm er die winzige Gestalt wahr, die in dem riesigen Himmelbett ruhte und deren Gesicht wirkte, als wäre es aus Alabaster gemeißelt. An einer Seite stand ein Mann, der, nach seinem weiten Obergewand und dem dicken Amethyst am rechten Ringfinger zu urteilen, der Arzt sein musste. In diesem Augenblick nahm er das Handgelenk der Sterbenden zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand, um ihr den Puls zu fühlen. An der anderen Seite stand ein Priester. Er betete und hielt die Flasche mit dem Salböl in der Hand.
In diesem Moment legte der Arzt die Hand der Sterbenden sanft aufs Bett zurück, drehte sich zu den Anwesenden um und schüttelte den Kopf.
Ermesenda lag in den letzten Zügen, doch in der nicht wahrnehmbaren Zeitspanne zwischen dem letzten Herzschlag und der ewigen Seelenruhe erinnerte sie sich blitzartig an ihr bewegtes Leben.
Vor ihr erschienen die Gesichter ihrer Eltern Roger I. und Adelaida von Gavaldà, um sie in dieser Schicksalsstunde zu begleiten, und ihr geliebtes Carcassonne, dessen Bild sich in ihren Erinnerungen mit ihren Kindheitstagen vereinte. Die Gestalt ihres Gemahls Ramón Borrell, den sie in Friedenszeiten bei seinen Amtsaufgaben unterstützte, indem sie den Vorsitz von Gerichten und Versammlungen übernahm, und den sie auch bei seinen Feldzügen begleitete, die ihn bis nach al-Andalus führten. Ihre zwei Regentschaften: zuerst die für ihren Sohn Berenguer Ramón den Buckligen und danach die für ihren Enkel Ramón Berenguer I., der ihr so viel Verdruss bereitet hatte. Ihre anderen Kinder, Borrell und Estefanía, deren Ehebund ihr die Unterstützung des Normannen Roger de Toëny einbrachte, dem man trotz allen Ärgers, den er verursacht hatte, dankbar sein musste, weil er die Piraterie im Mittelmeer ausgerottet hatte. Das Gesicht ihres Nachbarn Hugo von Ampurias, mit dem sie wegen der Ländereien von Ullastret so viele Streitigkeiten ausgefochten hatte. Die Gestalten zahlreicher Helfer, von denen einige schon tot waren und andere nun ihrem Enkel dienten. Ihr Bruder Pere Roger, den sie zum Bischof von Gerona gemacht hatte. Abt Oliba, der Bischof von Vic und Abt von Ripoll. Ihr Seneschall Elderich von Oris. Ihr Todfeind Mir Geribert. Ihre Stiftungen, das Mönchskloster von Sant Feliu de Guíxols und das Nonnenkloster von Sant Daniel in Gerona. Doch die Gestalt, die in diesem
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