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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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verraten?«
    »Nein, aber ich habe ihm meinen gesagt. Er war sehr nett … doch er hatte eine komische Nase«, kicherte Freyja.
    Die Mutter strich dem Mädchen lächelnd über den Kopf. Was Kinder nur immer bemerkten, kam es ihr verwundert in den Sinn. »Jeder Mensch wurde von Gott eben anders erschaffen. Du hast deine Nase und ein anderer eben eine andere. Darüber solltest du nicht lachen, sonst tauscht Gott morgen vielleicht deine und seine Nase!«
    Freyja wurde schlagartig still. Diese Drohung erschreckte sie zutiefst, denn eine schiefe Nase wollte sie nun wirklich nicht haben.
    Zufrieden bemerkte Runa, dass das Mädchen über ihre Worte nachdachte. »Komm jetzt. Wir sollten uns etwas beeilen. Sonst ist nichts mehr vom Festmahl übrig, wenn wir ankommen.«
    Nach diesen Worten wurde Freyja übermütig und begann, an Runas Hand zu ziehen. Offenbar hatte auch sie mittlerweile Hunger.
    »Langsam, langsam. Ich kann nicht so schnell mit meinem Kleid«, lachte Runa, bemühte sich aber, trotz ihres überlangen Rocks, den sie anheben musste, um nicht darauf zu treten, etwas flotter zu gehen. Trotz der Kälte war ihr der Schnee weitaus lieber gewesen als das Tauwetter, denn schon nach kurzer Zeit war der Saum ihres Kleides heute mit dem dunklen Schlamm der Straßen beschmiert gewesen. Was für ein Jammer, dachte sie, und schaute zu Boden, um nicht auszurutschen. Wenige Schritte später begann endlich die geflasterte Steinstraße. Hier war das Laufen leichter, und Runa richtete ihren Blick wieder nach vorne. Vor ihnen waren bereits die ersten Häuser des Kunzenhofs am Anfang der Altstädter Fuhlentwiete zu sehen, in die sie gleich einbiegen wollten, da erfassten Runas Augen etwas Merkwürdiges.
    Ohne es zu bemerken verlangsamte sie ihren Schritt und zog Freyja dichter an sich heran. Ihr Mund blieb offen stehen, und sie atmete flacher. Zunächst glaubte sie an ein Trugbild, dann aber kniff sie die Augen enger zusammen und sah, dass es Wirklichkeit war: Die Menschen, welche eben noch mit flinken Schritten an ihr und Freyja vorbeigerauscht waren, stürmten plötzlich in die entgegengesetzte Richtung und kamen auf sie zu. Sie rannten regelrecht. Ihre Gesichter ließen keine Freude mehr erkennen. Jetzt erklangen die ersten Schreie, rasend schnell verbreitete sich daraufhin eine Panik. Als plötzlich dunkle Rauchsäulen hinter den schneebedeckten Dächern auftauchten, wurde es Runa unmissverständlich klar: Hamburg wurde angegriffen!
    »Großer Gott!«, entwich es ihr leise. Dann riss sie sich von der Szenerie los und warf einen hektischen Blick zum Kunzenhof, dessen Tore sich in diesem Moment schlossen. Gerade noch konnte sie sehen, wie einige Hamburger sich dagegen warfen und lauthals um Einlass flehten, doch die Wächter blieben eisern. Verzweifelt wurde Runa klar, dass auch sie es unmöglich in die sicheren Gemäuer schaffen würden.
    »Mutter, Mutter!«, rief Freyja und zerrte an deren Kleid, weil sie nicht reagierte. »Wo rennen alle hin? Mutter …!«
    Runa versuchte gerade klare Gedanken zu fassen, als die Ritter um die Ecke galoppierten und mit ihren Schwertern begannen, jeden niederzumachen, der ihnen im Wege stand. Einige der Reiter trugen Fackeln bei sich, mit denen sie alles anzündeten, was bei diesem Wetter brannte.
    »Lauf, Freyja! Lauf!«, schrie Runa jetzt, warf den Korb fort und rannte los. Unerbittlich zog sie ihr Kind hinter sich her.
    Nur einen Augenblick später waren sie mitten im grausamen Geschehen. Um sie herum ertönten die Schreie der Verwundeten. Das Gepolter der Schlachtrösser schien von überall zu kommen. Die Luft war erfüllt vom Geruch des Feuers.
    Runa und Freyja rannten in die nächste schmale Gasse, in der Hoffnung, dass die mächtigen Pferde der Ritter hier nicht hindurchpassten oder man sie übersah. Doch sie sollten sich irren. Fast waren sie am Ende angelangt, da vernahmen sie das unverwechselbare Geräusch galoppierender Hufe hinter sich. Runa drehte sich um und erschauderte. Ein Ritter in Helm und Kettenhemd folgte ihnen, in der rechten Faust ein glänzendes Schwert. Hoch erhoben, hielt er es zum Schlag bereit und trieb sein Pferd gnadenlos an. Die Mähne des Rappen wallte und das Maul schäumte. Schnell kam er näher – so schnell, dass Runa glaubte, es nicht bis zum Ende der Gasse zu schaffen. Immer wieder schrie sie ihrer Tochter zu: »Lauf, lauf!«, und rannte um ihr Leben. Die Hufschläge wurden lauter, je näher sie kamen. Erst im letzten Moment erreichten sie die Querstraße

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