Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
ich ihr schnell etwas zu essen vorbeibringen. Wenn sie schon nicht bei uns sitzen kann, dann soll sie an diesem Festtag doch wenigsten gut speisen.«
Niemand wunderte sich darüber, dass die Magd schon Kenntnis darüber hatte. Dienstboten wussten über solche Dinge stets am besten Bescheid.
»Wie aufmerksam von dir, Agnes«, bemerkte Runa. »Sicher wird es ihr danach besser gehen.«
Plötzlich erklang Freyjas Stimme. »Mutter, können wir den Korb nicht zu Tante Margareta bringen?«
Runa blickte an sich herab, direkt in die großen bernsteinfarbenen Augen ihrer Tochter. Ihr war sofort klar, was Freyja mit ihrer Bitte bezwecken wollte – gab es für das Mädchen doch fast nichts Schlimmeres, als stillsitzen zu müssen.
Ava kam Runa zuvor, als sie sagte: »Ach, geht nur. Es dauert ja nicht lang, und sicher kann Agnes die eingesparte Zeit anderweitig gut gebrauchen.«
»Das ist allerdings wahr …«, bejahte die Magd.
»Na schön, dann komm«, willigte Runa ein und ließ sich den Korb reichen. An diesem Freudentag wollte sie einmal nicht so streng sein und ihrer Tochter diesen kleinen Wunsch erfüllen. Hand in Hand schritten sie davon.
»Bis gleich«, rief Freyja laut und langgezogen und winkte dabei fröhlich. Dann begann sie übermütig in einem immer gleichen Zweitakt neben ihrer Mutter herzuhüpfen. Es fiel dem Mädchen sichtlich schwer, einfach nur folgsam an der Hand zu gehen, wie es andere ihres Alters taten. Immerzu erregte irgendwas ihre Aufmerksamkeit, mal rechts, mal links, mal unten, mal oben. Zeitweise meinte Runa, gleich von ihr in zwei Hälften gerissen zu werden. Doch genau das liebte sie auch so sehr an ihrer Tochter. Sie war ohne Scheu und stets so wissbegierig.
»Mutter?«, meldete Freyja sich plötzlich zu Wort.
»Ja?«
»Heute ist doch der Tag des heiligen Nikolaus, richtig?«
»Ja, richtig.«
»Und heute bekommen die Kinder doch Geschenke, oder?«
»Ja, das stimmt. Warum fragst du?«
»Ich frage, weil ich einen Wunsch habe«, gestand das Mädchen ungeniert.
»Einen Wunsch? Du meinst, du möchtest etwas Bestimmtes haben?«
»Ja, etwas Großes.«
»Das auch noch! Aber du weißt schon, dass man den Tag heute nicht bloß deshalb feiert, damit man Geschenke bekommt?«
Einen Moment lang war Freyja still. Dann erwiderte sie: »Aber ich dachte, das Jesuskind hat doch einst drei Geschenke von den Heiligen Drei Königen bekommen. Dann kann St. Nikolaus mir doch etwas Großes schenken. Ich will ja nur ein Geschenk.«
Runa musste kurz schmunzeln. Sie wollte versuchen, das Mädchen abzulenken, und fragte deshalb: »Du scheinst dich ja gut auszukennen. Kannst du mir auch sagen, was die Heiligen Drei Könige mitgebracht haben?« Jetzt konnte Runa sehen, dass das Mädchen ins Grübeln kam.
»Gold …«
»Richtig!«
»Weihrauch …«
»Richtig!«
»Und … und … Kamille!«
Eigentlich wollte Runa nicht lachen, aber es platzte einfach aus ihr heraus. »Nein, Liebes. Nicht Kamille, sondern Myrrhe! Aber sei nicht traurig, Gold und Weihrauch waren ja richtig.«
Das Mädchen verschwendete offenbar keinen weiteren Gedanken an Myrrhe. Es war gedanklich schon wieder bei ihrem Wunsch. »Soll ich dir sagen, was ich gerne vom heiligen Nikolaus hätte?«
»Ja, sag es mir.«
»Ich möchte ein eigenes Pferd haben. Eines, das aussieht wie Vaters Brun, mit braunen Haaren, genau wie meine.«
Die Mutter sah das Mädchen an und zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, dieser Wunsch ist zu groß für ein so kleines Kind wie dich. Außerdem ist Brun ein sehr wildes Pferd …«
»Das macht nichts!«, warf das Mädchen unbeschwert ein. »Ich mag es, schnell zu reiten!«
»Ja, ich weiß«, antwortete Runa schmunzelnd und musste unwillkürlich daran denken, wie sie Freyja und Walther das letzte Mal gemeinsam auf Brun beobachtet hatte. Sie bemerkte gar nicht, dass sie an einer kleinen Gruppe von Kaufmannsfrauen vorbeigingen – bis sie deren Getuschel vernahm.
»Sieh dir mal diese Haube an«, lästerte eine von ihnen.
»Eine wahre Christin würde sich an einem heiligen Fest niemals derart ziersüchtig kleiden.«
»Und dann dieses sündig teure Kleid.«
»Pah, teuer? Für mich sieht es aus wie ein Putzlappen«, zischelte eine andere.
Als Runa sich umdrehte, erkannte sie gleich, wer da miteinander gesprochen hatte. Es waren Elizabeth Niger und Margareta von Grove, die missgünstig ihr Gewand begutachteten. Dahinter standen noch weitere Damen. Einige schauten ähnlich boshaft, andere eher beschämt.
»Ein
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