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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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wollte, dass sie gänzlich verschwanden. Würden sie gehen, würden mit ihnen auch die Bilder ihrer geliebten Tochter verloren gehen. Auf diese Weise konnte sie sie wenigstens noch mal sehen – irgendwie bei ihr sein –, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick und wenn auch immer mit einem schrecklichen Ende.
    Runa richtete sich auf. Draußen wurde es bereits hell, es war ohnehin Zeit aufzustehen. Doch ihre Gedanken ließen sie nicht los. Das kannte sie schon. Es dauerte stets, Freyja abzuschütteln. Etwas in Runa wehrte sich immer dagegen, den Traum mit ihr zu verlassen und zum Tagwerk überzugehen. In Gedanken versunken entwirrte sich Runa das Haar. Strähne für Strähne ließ sie durch ihre Finger gleiten und legte sie über ihre Schulter. Dabei fiel ihr Blick auf Walthers Laute, die verwaist in der Ecke stand. Auf ihr hatte sich bereits eine Schicht Staub gebildet. Wieder einmal dachte Runa, dass es besser wäre, die Laute in eine Truhe zu legen, wo man sie nicht ständig sah. Doch es schien fast so, als ob niemand sich traute, sie anzufassen.
    Als sie mit ihren Haaren fertig war, flocht sie diese zu einem Zopf, drehte ihn zu einem Knoten und versteckte ihn unter einer Haube mit aufgesetztem Gebende und einem Kinnstreifen aus Leinen. Runa zog sich leise an, um Walther nicht zu wecken, und verließ dann die Kammer. Ihr Weg führte sie nur eine Tür weiter, denn sie wusste, dass es mindestens noch eine andere Person im Haus gab, die schon wach war, und das war ihre Mutter. So betrat sie den Handarbeitsraum, wo Ragnhild auf ihrem Platz saß. Ihr ständig schmerzendes Knie hoch auf einen Schemel gelagert, sah sie von ihrer Stickerei auf.
    »Guten Morgen, mein Kind.«
    »Guten Morgen, Mutter.»
    Ragnhild bemerkte gleich, dass etwas nicht stimmte. »Was ist mit dir?«
    »Ach, nur wieder einer dieser Träume.«
    »Freyja?«
    »Hmm. Und dieses Mal fühlte sich alles so echt an. Ich konnte ihr Gesicht sehen und ihre Haare …«
    Ragnhild griff nach Runas Hand. »Auch ich träume noch ab und an von deinem Vater. So ist das eben, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren.«
    »Meinst du, Gott schickt uns diese Träume?«
    Ragnhild lachte kurz auf. »Meinst du, dass ich die Richtige bin, um dir diese Frage zu beantworten?«
    Runa verstand sofort und lächelte freudlos über ihr törichtes Verhalten. Seit sie denken konnte, haderte Ragnhild mit ihrem Glauben. Wahrscheinlich machte sie das tatsächlich zu einem schlechten Berater. »Ich weiß, wie es um deinen Glauben bestellt ist, Mutter. Aber mit wem soll ich sonst darüber sprechen?« Tränen füllten langsam ihre Augen. Eigentlich wollte sie gar nicht weinen, doch sie rannen ihr einfach das Gesicht herunter. »All das ist nun schon so lange her, und manchmal habe ich das Gefühl, alle um mich herum leben einfach weiter. Sie haben einen Weg gefunden, mit dem Erlebten umzugehen, doch ich, ich kann es immer noch nicht begreifen. Für mich fühlt es sich an, als hätte ich mein Kind erst gestern verloren, und auf eine Weise verliere ich sie jeden Morgen nach dem Aufstehen erneut.«
    Ragnhild zerriss es fast das Herz, Runa so zu sehen. Sie wusste, wie sich ihre Tochter fühlte, denn damals, während des großen Brandes im Jahre des Herrn 1284, hatte auch sie zwei ihrer Kinder in den Flammen verloren. Waren sie auch gezeugt worden mit einem Mann, den sie nicht geliebt hatte, so hatte sie doch ihre Kinder geliebt. Noch heute dachte sie von Zeit zu Zeit an Symon und Christian und fragte sich, was wohl aus ihnen geworden wäre – eine Frage, auf die sie niemals Antwort erhalten würde. »Erwarte nicht zu viel von dir, Liebes. Der Verlust eines Kindes geht über alle Qualen hinaus. Nichts auf der Welt könnte je schmerzhafter sein. Irgendwann wirst du vielleicht lernen zu dulden, dass es so gekommen ist, doch erwarte nicht zu viel.«
    Runa wischte sich die Tränen vom Gesicht. Sie wusste zu schätzen, dass sich ihre Mutter stets bemühte, sie zu trösten, obwohl Runa nie etwas Neues vorzutragen hatte. Es waren immer die gleichen alten Gefühle, die sie quälten, und in ihrer Verzweiflung griff sie wieder mal zum gleichen alten Mittel, um ihre Trauer zu bekämpfen. »Ich werde jetzt beichten gehen.«
    Ragnhild hatte genau das erwartet. Fast all ihre Gespräche über Freyja endeten so. Auch wenn sie sich fragte, was ihre eigentlich ebenso glaubensschwache Tochter dem Priester immer erzählte, und ob dieser denn noch irgendeine Antwort für sie bereithielt, die er ihr nicht

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