Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
wieder wurde Ava bewusst, wie lange er schon tot war. Das Leben hatte einfach seinen Lauf genommen, und plötzlich waren über acht Jahre vergangen.
Wehmütig sah sie auf die Grabplatte hinab und las: Hier ruht Thiderich Schifkneht . Neben seinem Namen war ein Kreuz eingehauen und darunter das Bildnis der Muschel, die Thido heute um den Hals trug. Hier verweilte ihr Blick so lange, bis eine tiefe Traurigkeit sie erfasste, doch ebenso auch eine innere Ruhe. Langsam sank sie auf die Knie und legte eine Hand auf den Stein. »Thiderich, was habe ich nur falsch gemacht?«, fragte sie bekümmert. »Habe ich dich je so sehr gebraucht, wie ich dich jetzt bräuchte? Ich wünschte, du wärest hier und könntest mir deinen Rat geben. Unser Sohn hat sich von mir abgewandt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Bitte hilf mir, wenn du mich jetzt aus dem Himmelreich sehen und hören kannst. Schick mir Kraft … ich bitte dich … schick mir Zuversicht. Ich bin ratlos!«
Ava verharrte eine Weile in dieser Position, die Augen geschlossen und in Gedanken weit weg. Dann öffnete sie die Augen wieder. Sie schaute auf Thiderichs Stein, strich noch einmal liebevoll darüber und erhob sich langsam. Natürlich war es ihr unmöglich zu sagen, ob ihr verstorbener Gemahl ihr jenen Gedanken eingeflüstert hatte, doch das war auch ganz gleich.
Ragnhild! Bei ihr würde sie den Trost finden, den sie heute brauchte. Denn auch sie hatte einmal ein Kind verloren, welches sich dem Übel zugewandt hatte. Johannes, Godekes Zwillingsbruder! Schon Jahre hatten sie nicht mehr über ihn gesprochen, und Ava wusste auch nicht, ob es Ragnhild überhaupt recht war, an ihn erinnert zu werden. Trotzdem war es einen Versuch wert, und so machte sie sich auf den Weg in die Gröningerstraße.
Avas Plan erwies sich als gut und richtig. Wie immer freute sich Ragnhild sehr über Besuch, denn seitdem ihr Knie sie fast ständig ans Haus zwang, war ihr jede Abwechslung recht.
»Wie geht es dir?«, begann Ava das Gespräch.
»Nun, wie immer. Runa und Walther versorgen mich so gut, dass es eigentlich keinen Grund für mich zu klagen gibt. Aber du weißt ja, mein Knie. Doch wenn ich dich so anschaue, dann bist du nicht gekommen, um dir mein Leid anzuhören, richtig?«
Ava wurde rot. »Wie habe ich mich verraten?«
»Ach, irgendwelche Vorteile muss das Altern ja haben. Und wenn es bloß die Erfahrung ist, die man mit den Jahren gesammelt hat. Also, was ist es, das dir auf der Seele liegt?«
»Ich … ich wüsste von dir gerne, ob …«, Ava räusperte sich leise. »Ach, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«
Ragnhild schaute auf die Handarbeit in ihren Fingern und warf sie plötzlich achtlos zu Boden. Stattdessen ergriff sie Avas Hand. »Ich konnte diese scheußlichen Handarbeiten noch nie leiden, weißt du!«
Ava blickte auf das halbfertig bestickte Stück Tuch und begann zu lachen.
Ragnhild lachte mit, dann forderte sie Ava auf: »Und nun erzähle mir von deinem Kummer. Fang einfach an.«
Noch einmal atmete sie tief durch, dann begann sie langsam: »Es geht um Ehler. Ich brauche deinen Rat.«
»Um Ehler? Wie kann ich dir helfen?«
»Nun, wir haben jede Verbindung zueinander verloren. Frage mich bitte nicht, wie oder wann das passiert ist, ich kann es dir nämlich nicht genau sagen, aber es scheint unwiderruflich zu sein. Ehler ist so voller Hass. Ich komme einfach nicht mehr an ihn heran. Mit Christian kann ich nicht darüber sprechen, er versteht mich nicht, darum bin ich hier bei dir. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich dich daran erinnere, doch auch du hast schon einmal einen Sohn verloren – Johannes!«
»Das ist richtig, ich habe einen Sohn verloren. Auch wenn es schon fünfzehn Jahre her ist, seit Johannes sich für immer gegen mich und seinen Vater entschieden hat und Godeke zu mir zurückgekommen ist, fühle ich den Schmerz noch immer.«
»Wie bist du damit fertig geworden, Ragnhild? Es fühlt sich so qualvoll an, fast so, als würde man mir ein Stück aus meinem Körper reißen.«
»Genauso hat es sich für mich angefühlt. Und wenn du wirklich wissen willst, wie ich damit fertig geworden bin, kann ich dir nur eine Antwort geben: Bis heute schmerzt es, und mein Herz sehnt sich noch immer nach meinem Kind. Aber manchmal müssen wir lernen, dass das Herz und unser Verstand unterschiedlicher Meinung sind. Johannes hat eine schwarze Seele. Ich kann dir nicht sagen, warum so etwas passiert, und ob das Gleiche mit Ehler passiert ist, aber
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