Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Mutter so etwas nicht fühlen? Ich fühle nicht, dass sie tot ist.« Ihre Frage blieb unbeantwortet. Runa atmete tief durch. »Und dann sind da noch die Erinnerungen an ihre Träume. Ja, ich weiß, es waren nur Träume. Von Feuer und von Pferden. Aber immer nachdem sie aufgewacht war, hat sie mich angefleht, dass ich nie aufhören darf, sie zu suchen. Ich solle sie suchen … sie hat es immer wieder gesagt.«
Wieder gab es einen Moment, in dem die beiden Frauen über das nachdachten, was Runa eben erzählt hatte. Dann kam die erste zögerliche Reaktion.
»Das waren nur Träume. Die Träume eines Kindes. Nicht mehr und nicht weniger«, sprach Ava. »Sie haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Halte dich nicht daran fest, Runa.«
»Und dennoch fühlt es sich so an, als hätte sie gewusst, dass ich sie eines Tages nicht würde beschützen können.«
4
Die Mauer war fast fertig. Bentz konnte kaum mehr darüberschauen. Nur an einem Stück standen noch ein paar Latten des vorübergehenden Palisadenzauns, den es durch Steine zu ersetzen galt. In einem, höchstens zwei Tagen würde seine Arbeit beendet sein, und dann würde er Tybbe, die ihm ans Herz gewachsen war, nicht mehr täglich sehen können, was er bedauerte. Seine Gedanken waren töricht. Sie gehörte zum Kloster, und ihr Leben war dazu bestimmt, hinter Mauern stattzufinden, weshalb er sich auch verhielt wie immer.
Tybbe schaute von ihrem Platz bei den Obstbäumen zur Mauer. Bald würde sie fertig sein, und dann würde Bentz wohl nie wieder hier stehen. Sie hatte sich an die Gespräche mit ihm gewöhnt und sich in letzter Zeit sogar ein wenig darauf gefreut, doch ihre Gedanken waren töricht. Er war ein Müllersgehilfe und kein Geistlicher, und sein Leben fand nun mal außerhalb der Mauer statt, weshalb auch sie sich verhielt wie immer.
»Gefällt dir deine Arbeit beim Müller? Ist er ein guter Herr?«
»Ich kann mich nicht beklagen. Er ist ein ruhiger Mann, der seine Arbeit liebt. Nur wenn ich faul bin, wird er zornig. Und dann kann er brüllen wie ein Stier.«
Tybbe lachte. »Klingt nach Mutter Heseke.« Dann fügte sie flüsternd hinzu: »Nur, dass sie immer zornig mit mir zu sein scheint – ganz gleich ob ich faul bin oder fleißig.«
Jetzt musste Bentz auch lachen. Er hatte keine Ahnung vom klösterlichen Alltag, doch das, was er in den letzten Tagen mitbekommen hatte, erstaunte ihn. In seiner Vorstellung war das Leben in einem Kloster angenehm und sorglos, doch in Wahrheit schien es streng geregelt zu sein, und man verlangte unbedingten Gehorsam. Besonders diese Mutter Heseke ließ keine Nachlässigkeiten durchgehen. »Warum ruft diese Klosterfrau ständig nach dir? Was will sie denn immerzu?«
»Sie ist meine Lehrmutter.« Als sie Bentz’ fragendes Gesicht sah, klärte sie ihn auf. »Sie soll mich zur christlichen Lebensweise erziehen, damit ich eines Tages eine Chorjungfrau werden kann.«
»Und dazu muss man ständig schimpfen?«, fragte er, während er den nächsten Stein setzte.
»Scheinbar schon …«, wich Tybbe ihm aus. Es war offensichtlich, dass sie nicht weiter über ihre Lehrmutter sprechen wollte, darum wechselte Bentz das Thema.
»Vermisst du das Leben außerhalb der Mauern manchmal?«
Tybbe zuckte mit den Schultern. »Hm, wie könnte ich? Ich war noch sehr klein, als ich herkam. Ich schaue nicht zurück. Es ist, wie es eben ist.« Sie hatte ihn bei dieser Antwort nicht angesehen, doch jetzt hob sie den Blick. Ihre Miene hatte nun etwas Neckisches an sich. »Außerdem bin ich natürlich froh, dass ich keinen Hunger leide und nicht frieren muss.«
Diese Worte waren natürlich ein Seitenhieb, bezogen auf ihr erstes Gespräch, welches sie hier geführt hatten. Bentz konnte nicht umhin, sie für ihre heitere Art zu bewundern. Sie war so anders, als Chorschülerinnen in seiner Vorstellung stets gewesen waren. Gerade wollte er richtigstellen, dass er sie damals nicht hatte kränken wollen, als plötzlich etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Er horchte auf. »Hörst du das?«
»Ja … das sind Trommeln!«
»Ich glaube, sie kommen näher«, mutmaßte Bentz und schaute sich um.
Tybbe war auf einmal ganz aufgeregt. »Sibilla, hörst du das auch?«, fragte sie die Chorjungfrau, die sogleich herbeigeeilt kam.
»Ja, ich höre es«, bestätigte diese lächelnd. Während sie auf Tybbe und Bentz zugelaufen kam, blickte sie flüchtig zum Kreuzgang. Die anderen Mädchen, die für gewöhnlich im Garten aushalfen, waren kürzlich zum Propst
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