Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
gerufen worden. Sie wusste nicht, wie lange sie fortbleiben würden, doch jetzt waren sie alleine im Garten. Sibilla griff nach Tybbes Hand und forderte sie auf: »Komm mit! Wir sehen nach.«
Gemeinsam liefen sie hinter den Obstbäumen auf die verbliebenen Palisaden zu. Hier war ein etwa handtellergroßes Astloch im Holz, durch das sie hindurchspähen konnten. In der Vergangenheit hatte es die beiden oft hierhergezogen, denn von hier aus sah man nicht bloß eine weite Wiese und vereinzelte Baumgruppen darauf, die weiter hinten zu einem Wald anwuchsen, man sah außerdem noch einen Teil des Weges, der am Kloster vorbei nach Stade, Hamburg und Buxtehude führte.
»Was tut ihr da?«, fragte Bentz erstaunt, der sich ein paar Schritte von dem Mauerstück entfernt hatte, das er ausbesserte, und jetzt zurückblickte.
»Glaubst du, wir wollen das verpassen?« Tybbe spähte durch das Astloch. Das Trommeln wurde lauter. Zwar konnte sie noch nichts erkennen, doch sie meinte zu hören, aus welcher Richtung es kam. Mit dem Finger wies sie den Weg hinab. »Ich glaube, es kommt von dort.«
»Lass mich auch mal sehen«, forderte Sibilla und stellte sich auf die Zehenspitzen, da sie etwas kleiner war als Tybbe. Nach ein paar Augenblicken rief sie entzückt: »Das sind Spielleute!«
»Wirklich?«, fragte Tybbe nicht weniger erfreut. Sie liebte Musik – auch wenn sie nur selten andere Gesänge als die christlichen zu hören bekam.
Die jungen Frauen teilten sich nun das Astloch. Wange an Wange stierten sie geradezu auf die bunt gekleideten Gaukler. Nach einer Weile kamen die Männer und Frauen zum Stehen.
»Schau, sie machen eine Rast. Vielleicht …«
»Mach dir keine Hoffnungen, Tybbe«, winkte Sibilla missmutig ab und löste sich von dem Guckloch. »Sie werden nicht lang bleiben. Hier doch nicht! Geistliche und Spielleute sind wie Feuer und Wasser. Und das hat ja auch seinen Grund.«
»Ja, du sagst es …«, erwiderte Tybbe verträumt. Der Anblick der Spielleute löste etwas in ihr aus, was sie noch immer am Zaun hielt.
»Lass uns besser wieder an die Arbeit gehen, bevor uns jemand sieht. Der Garten macht sich auch nicht von allein.«
Schweren Herzens wandte auch Tybbe sich jetzt um, als die Spielleute ein neues Lied anstimmten. Das Lied war offensichtlich einer Frau gewidmet, und es enthielt ein paar liebliche Zeilen.
Ich wandere über Stock und Stein
Von morgens früh bis abends spät
Um ein letztes Mal bei ihr zu sein
Obwohl der Sturm mir entgegenweht.
Tybbe hielt abrupt inne. Es war ihr, als hätten ihre Füße mit einem Mal an Ort und Stelle Wurzeln geschlagen. Unbewegt lauschte sie den Worten des Sängers, und ohne dass sie es merkte, formten ihre Lippen ganz plötzlich die nächsten Verse. Tonlos. Jedoch Wort für Wort.
Ganz gleich, was ich noch werde wagen
Ob Kampf gegen Ritter und Recken
Alles werde ich ertragen
Jeden für sie niederstrecken.
Sibilla war vorgegangen, doch jetzt bemerkte sie plötzlich, dass Tybbe ihr nicht folgte. Sie drehte sich um und sah, dass sie mit aufgerissenen Augen und fast schon erschrockenen Blickes dastand. Bloß ihre Lippen bewegten sich. Die Chorjungfrau brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Tybbe die Worte des Sängers mitsprach.
Wenn wir vereint sind unter Linden
Unsere Seelen erfüllt mit Glück
Dort wollen wir den Frieden finden
Und kehren niemals mehr zurück.
»Du kennst dieses Lied?«
»Ja«, antwortete Tybbe sichtlich verwirrt. »Ich kenne es, jedes Wort, doch ich weiß nicht woher.«
»Das … ist überaus … seltsam.«
Dann ging ein Ruck durch Tybbe. Sie hastete zu dem Astloch im Zaun zurück und schaute hindurch. Der bunte Ochsenwagen, der geschmückt war mit allerlei Stofffetzen und klimpernden Schellen, war längst zum Stillstand gekommen. Der Gesang verstummte. Die Spielleute machten alles für eine kurze Rast bereit, denn die Frauen holten etwas zu essen hervor. »Ich muss zu ihnen.«
Sibilla erstaunte das Verhalten Tybbes zwar, doch sie nahm es nicht ernst. »Ja, klar musst du das«, sagte sie spöttisch. »Und ich muss, glaube ich, einen Eimer kaltes Wasser für deinen Kopf holen.«
»Nein, du verstehst nicht. Ich muss sie fragen, was das für ein Lied ist.«
Bentz und Sibilla schauten Tybbe wortlos an. Erst als sie plötzlich auf einen der Apfelbäume kletterte und flink wie eine Katze zu den oberen Ästen gelangte, kam wieder Leben in die beiden.
»Großer Gott, was tust du denn da?«, fragte die Chorjungfrau erschrocken.
Auch Bentz
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